Blankenburg
bey Rudolstadt 1837.·.
am
29en Tage im Monat des prüfenden
Wechsels.
Theure
Ernestine.
Ich habe mich gar sehr über
Deinen lieben einfachen Brief
gefreut welchen uns Herr Gyger von
dir überbracht hat,
und da ich Dir gerne selbst einige Zeilen
darauf antworten
wollte, so habe ich lieber die Absendung des
beyliegenden Briefs
an Deinen lieben Mann verschoben. Ich freue
mich gar sehr
Deines jetzigen inneren Stehens, Deines Lebens und
Handelns
so weit es mir aus Brieflichen und anderen
Mittheilungen
vorliegt. Offen und gern gestehe ich Dir, daß mir
jetzt in Deinem
gesammten Wesen eingetreten < ? > und immer
mehr einzutreten
scheint was ich früher und bisher wohl in
demselben vermißte.
Ich finde zuerst daß sich Dein Lebensblick
und Lebenssinn
mehr verallgemeinert; [{]früher / bisher} erschien
er mir noch gar
zu sehr auf dem Einzelnen Getrennten, besonders
auf
dem eigenen Persönlichen zu ruhen. Dieß hat mir
früher
gar mannichmal Schmerz gemacht, besonders damit
ver-
bunden, daß es mir erschien, Du gäbest Dich oft zu
sehr
der einzelnen und vereinzelnden äußeren
Verstandes[-]
Ansicht des Lebens hin. Jetzt erscheint es mir aber
als
habe sich Dein früheres mehr vereinzelndes
Verstandesleben in dem
mehr
verallgemeinerenden Gemüthsleben gefunden
und
beydes in Einigung erscheinen als leben- uns seelenvolles
Thatleben. /
[94R]
Es scheint
zwischen Dir und Deinem lieben Manne ein sehr
tiefer und
eingreifender innerer Lebens- oder vielmehr
Wesens Austausch und
umbildender gegenseitiger Lebenseinfluß statt[-]
gefunden zu
haben und zwar zu Eurer
beyderseitigen Lebensgewinn nicht etwas
nur für
Euch sondern für die Gesammtfrüchte Eurer
Lebensthä-
tigkeit.
Schon das Leben eines einzelnen
Menschen Ernestine wirkt unbewußt
sehr viel zum Wohle der
Menschheit wenn er
für sich die Einigkeit von Kopf Herz und Hand
gewinnt, wenn
er in sich die Einigung von {Geist / Verstand},
Gemüth und That erringt.
Und der Hingang eines solchen Menschen
von vollendeter
Reife der Lebenswirksankeit ist schon für die
Menschheit
ein wesentlicher
schmerzlicher Verlust.
Findet sich, <h lebt>ein solcher sich so in sich
gefundener
und geeinter Mensch zugleich in Einigung mit der
Natur
und Leben, so ist seine wohltätige Einwirkung
auf das
Leben noch seegensreicher und sein Sterben
vor erlangter Reife
der Lebenswirksamkeit
ist für die Menschheit ein wesentlicher
Verlust.
Finden Zwey Menschen
gemeinsam und gegenseitig
in sich Verstandes- Gemüth[-] und That
Einigung, so ist
ihr Leben weit um sie her beglückend.
Finden nun aber gar die sich so gefundenen und /
[95]
geeinten beyden Menschen in voller Einigung mit Natur
und
Leben, mit Welt und Geschichte, so ist dadurch die erste
Bedingung
zur Erhebung der Menschheit auf eine neue
Entwickelungs- und
Bildungsstufe erreicht.
Bilden diese
beyde[n] Menschen zugleich eine Familie, und
ist ihr Geist, sind
ihre Gesinnungen zugleich der Geist, die
Gesinnungen, das Leben
und Thun der ganzen, ihrer ganzen
Familie, so ist die selbst
Erhebung der Menschheit auf eine
<neue> folgende
Entwickelungsstufe erreicht, errungen.
Finden und einigen sich
zwey Familien in diesem
Geiste und mit dieser Gesinnung wie unter
und in sich, so mit
mit Natur u Leben, Welt und Geschichte, mit
Gott
und Offenbarung, und die Erhebung der Menschheit
zu
ihrer nächsten neuen Entwickelungsstufe <ihrem>
ist wie errungen so
gesichert.
Die Hemmung, Stöhrung, Vernichtung solcher
Menschen, Ver-
bindungen, Einigungen und Verhältnisse ist für die
Menschheit
ein unersetzlicher, ein bleibender Verlust.
Wenn Du mir nun liebe Ernestine auf diesen Treppchen
von wenig
Stufen, auf diesen Leiterchen von wenig
Sprossen folgen kannst -
was ich gewiß glaube - so
wirst Du auch mit mir einsehen, daß
zuerst alles
von dem Stehen
eines Menschen in sich von seiner
Einigung in sich, von
sic dem
Frieden in sich, nicht
aber von
seiner /
[95R]
Zufriedenheit
mit sich abhängt. Du hast mir oft
ausge-
sprochen daß Du nie geglaubt hättest es könne so
<schwierig>
seyn ehe sich auch nur zwey Menschen verständen
als Du nun im Leben <fändest> hier
hast du ein kleines
Pröbchen.
Um diese Kleinigkeit um des Findens und
Anerkennens
der
Verschiedenheit
zwischen
Einigung Frieden in sich
und
Zufriedenheit
mit sich habe ich seit nun 20 Jahren
ge-
kämpft. Weil ich glaubte daß ich an die welche sich
mit
mir zu gleichem Werke fänden, <
unerläßlich>
gleiche Grundforderung,
also Einigung Frieden in sich fordern
müßte so hat man mich mit
Eigensucht,
Zufriedenheit
mit sich bald zu Tode gequält; so daß
ich mich nicht an-
ders als durch Austretung und Ausscheiden
retten konnte.
Wenn man es nun auch zunächst mit der Menschheit
um sie
auf die ihr jetzt bestimmte neue Entwickelungsstufe zu
b erheben
nicht weiter bringen
kann als jene Vermengung und
Verwechselung zu verhüten, so muß
man wenigstens in
diesem Kampfe nicht ermüden, denn
ohne Klärung über
diesen Punkt ist an gar
keine wahre Lebenserneuung, Lebens-
verjüngung, Lebensfortbildung
zu denken. Ohne dieß ist alles
was geschieht nur
Lebensverbesserung, oft eine
Lebensverän-
derung auf früherer, alter
Stufe. Daher kannst Du nun
wohl einsehen meine liebe Ernestine,
wie ich, wenn ich
den genannten Punkt auch in Mittheilungen an
Deinen /
[96]
lieben Mann <berührte>, bisher so
leicht bitter und stachlich werden
konnte denn es handelte sich
ja um die Hervorrufung der ersten
Grundbedingung, um die
Erfüllung der ersten Grundforderung
durch Mehrere und in
Mehreren. Ich freue mich nun gar sehr
aus Deines Mannes jüngsten
Briefen und aus dem Deinen
zu sehen, daß es Euch endlich gelungen
ist den Grund da-
von einzusehen und Du und Ihr werdet nun die
weitere
Erfahrung machen, daß <wie> man den Grund einer
Sache
nahe einsieht man auch auf dem Wege ist die Sache
selbst
sich anzueignen, die Sache selbst zu bekommen, aus
sich
zu entwickeln. Und so hoffe ich denn auch daß die, in
dem
hier an Deinen lieben Mann mitkommenden Briefe, et-
was
durch die <Erwiderung> unwillkührlich wiederge-
kehrten
unheimlichen Empfindungen und deren Aus-
druck Dich wie Ihn nicht
vom betretenen, vom gefunde-
nen Wege ab, sondern
sich vielmehr immer sicherer
u.
freudiger auf demselben fortführen werden, da Ihr
nun
einseht und wißt, wie jene Empfindungen und
ihr Ausdruck tief in
der Sache und in dem Stehen zu
der Sache um die es sich handelte
und noch handelt ge-
gründet sind oder waren; weil Ihr nun gewiß
durch-
fühlt, ja erkennt wie ihr Erscheinen und
Hervortreten
eben der unzweydeutige Ausdruck der so hohen als
sichern
Erwartung ist, daß das neue Menschheitsleben nicht
allein /
[96R]
und vor allem blos
in Euch, sondern auch überhaupt
durch Euch erstehe und erscheine.
Willst Du nun theure Ernestine aus einem dritten Munde
durch
eines Dritten Mund klar und wahr hören warum ich
in meinen
Forderungen im engsten Leben so streng und
unbeugsam in der
Erinnerung an die so oft von mir
vermißte Erfüllung derselben so
bitter, trüb und hart
bin, - so ließ [sc.: lies] im Laienbrevier
Monat November II.
Zweytes Halbjahr S. 241. Dort, in diesen
Worten findest
Du zugleich die Auflösung für alles das was man
mir
im Leben aufbürdete; ob man es mir nun wohl
gleich,
wenigstens in diesem Maaße nicht mehr aufbürdet,
so
ist es doch gut wenigstens die Auflösung des früher
Aufgebürdeten
zu finden.- Wie überhaupt das
Layenbrevier nach allen Seiten hin
mein Leben in
seinem wahren Lichte zeigte, - mein Streben
darlegt.
Auch Du und Ihr werdet Euer Leben <darum>, und
darinn
gerechtfertigt findet [sc: finden] wo in allen Punkten nur
Euer Leben ein
menschliches, ein menschheitliches war, und ich
freue mich
dessen freue mich innig dessen; denn es ist mir ja
Beweis
gemeinsamer Zielerreichung, und wie wäre
dieß möglich
wenn die Lebensentwickelungen, die Bildungsgänge,
die Grund[-]
bedingung der Lebensentwickelungen sich fern und
fremd, wenn
sie in ihrem Wesen verschieden
wären?- /
[97]
Da ich den Brief doch nicht so gerad zu
abbrechen kann und ich noch
dieses schöne Blatt habe, will ich
Dir doch auch noch einiges aus
unserer Häuslichkeit schreiben.
Gestern ist unser kleines Stückchen
Land welches wir <vom>
Hauptgarten haben, so wie unser klei-
nes Vorgärtchen zurecht
gemacht worden. Neben dem
ersteren in dem Hauptgarten steht eine
Laube aus drey Linden
welche sehr
schön dicht im Dache zu werden scheint; freylich
sind die Seiten
ganz laubig offen; dicht dabey soll, weil es da
selbst schattig
ist, ein Aurikelbeet angelegt werden. Zur lin-
ken Seite der
Laube, oder nach Osten stehen zwey dichte in
einander
verschlungene große Lebensbäume,
ich habe mich
recht gefreut als ich es nach unserm Einzuge
zum erstenmale
bemerkte; sie stehen gerad emporstre-
bend wie zwey Fichten - das
Vorgärtchen wird blos
zu einigen Blumen benötigt werden, und zu
einer kleinen
Bank Raum geben.- Dein lieber Lgthl. theilt uns mit
wie er
früher sich gern im Anschauen der Gärten hier geweilt und
sich
derer erfreut habe; es ist mir dieß sehr erfreulich
und
zur Dankbarkeit will ich Dir und ihm etwas aus
meiner
15 oder 16jährigen Jugend mittheilen. Ich war dort
oft
wandernd vom Voigtland (Hirschberg) nach
Thüringen
[(]Oberweißbach) da kam ich dann oft vor manchen
schönen
Landsitz im herrlichen Buschwerk und zwischen
kräftigen
Bäumen vorbey. Hoch schlug mir da immer das Herz: /
[97R]
"Welch ein reines friedliches Leben muß hier
heimisch
"seyn; könntest du doch bey diesen Menschen leben
wohnen
"mit ihnen leben wie herrlich müßte das seyn".
Selbst einst in einer solchen Wohnung zu wohnen war der
Laut-
und Wortlose Wunsch meines Herzens. Daraus
sieht man
wie der Mensch durch die ihn umgebende
Natur wieder, auch andere
erzieht und erhebt.
Dieß war der stille Gedanke bey all meinen
Anlagen
in Keilhau. Darinn hat es vielleicht auch
seinen
Grund daß die Mitnachbarn in K. uns die <Flur> so
frey gaben.
Doch nicht von Keilhau sondern von Blankenburg
will
ich Dir erzählen.- Seit 8 Tagen ist es mir durch
Acht-
samkeit und Vergleichung gelungen
allen Rauch aus
der Küche selbst
beym ersten Einheizen zu entfernen.
Jetzt ist es wahr jetzt ist die kleine Küche ganz wie
das
<erstbeste> Stübchen.- Die Gehülfin welche meine
Frau hat
ist sehr jung, das ist wahr, kaum 15½ Jahr alt
also in vielem
sehr schwach so daß meine Frau den
ernsten Vorsatz hatte und wohl
noch hat, mit einer er-
fahreneren Person gegen sie [zu]
wechseln; allein Malchen
so heißt sie hat sonst so viel Gutes daß
sich meine Frau
schwer dazu entschließen kann:
immer willig, nie
verdrossen, bey Verweisen auch
keine Spur von <Mucken>.
So hat
die Mutter von dieser Seite viel Freude, und so doch
einen
kleinen Ersatz für dein Töchterliches Eingehen dessen sie
immer dankbar gedenkt.
Nun
habe ich doch kaum noch Platz Dir Lebe wohl zu sagen. FrFr
[97]
Möchtest Du meiner Frau herzinnigen, seelenvollen Gruß
in jedem Worte lesen.-
[96R]
Herr Gyger hat eine recht
nette Wohnung. Mondtag am 2/V wird er einziehen.-