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Charlottenburg, den
6.II.05
Liebes Fräulein Hadlich!
Für Ihren freundlichen Glückwunsch, dessen ironischen Ton ich
durchaus teile, herzlichen Dank. Möge der Weg nach Schwetzingen
resp. im Schwetzinger Park, den ich auf ihrer
schönen Karte sehe, Ihnen leichter fallen als mein Weg jetzt und in
den letzten Tagen war. Auch für ihren lieben Brief danke ich Ihnen,
auf den ich Ihnen näher antworten werde, wenn mir die Philosophie
weniger verleidet sein wird, als jetzt.
Auch von
Hermann erhielt ich heut einen
Gratulationsbrief. Ich freue mich über das Fortschreiten seiner
Arbeiten, unter denen die Examensarbeiten die geringsten sind. Wie es
innerlich
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| in ihm arbeitet, wie er mit Leidenschaften und
Reflexion kämpft, lese ich aus jeder seiner Zeilen. Bei mir ist
leider so völlige Ebbe, daß ich kaum diese Seiten zu füllen weiß.
Seit 14 Tagen umgiebt mich ein mystisches Dunkel: meine
Freunde lassen mich im Stich, meine Feinde drücken mir die Hand -
momentan jedenfalls bin ich an allem irre, und habe nur das Gefühl,
daß ich mein Nervensystem diesen frdl. Einflüssen nicht
länger als Klaviatur darbieten kann. 10
Tage vor dem Examen plötzlich hieß es, kein Mensch in der Fakultät
habe m. Arbeit u. ihr Prädikat unterschreiben wollen.
Stumpf sollte die Schuld haben.
Meine begreifliche Aufregung kämpfte ich mit aller Kraft nieder. Dann
bei den Besuchen war Stumpf persönlich unvergleichlich liebenswürdig:
nur die Logik in folgenden Worten
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| leuchtete mir nicht ein:
Sie sehen sehr elend aus; haben ja auch eine kolossale Arbeit
gemacht. Als Dissertation ist das vollkommen unmöglich. Ich: Herr
Geheimrat, es war mir ein Herzensbedürfnis. Er: Das sieht man; wir
sind ja auch sehr zufrieden mit Ihnen. Nachdem Sie es einmal
angefangen haben, haben Sie sich sehr gut herausgeholfen. Sie haben
ja kolossal viel gelesen. - Beim Mündlichen waren bis auf
Hintze alle Examinatoren
überaus wohlwollend. Doch - wie Sie wissen - hatte ich kein
besonderes Glück, obwohl ich bei
Erich
Schmidt u.
Paulsen wohl
sehr gut bekam. Ein neues Rätsel erwartete mich, als mir der
Dekan das Resultat verkündigte.
Da standen
sämtliche 3 Philosophen parat,
mir zu gratulieren, und mit Thränen empfing ich das freundliche
Lächeln und den lebhaften Händedruck des alten
Dilthey, der ja garnichts mit
mir zu thun hatte, und dem ich diesen mir unendlich wertvollen Moment
nie vergessen werde.
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Am nächsten Tage wieder
freundliche Begrüßung von
Stumpf
auf der Straße (!), er meinte
[über der Zeile] es würde sich schon ein Verleger für m.
Arbeit finden. hingegen bei
Paulsen in der Wohnung merkliche Erkältung. Das
Wort über m. Arbeit, worauf ich 2 Monate mit Ungeduld gewartet hatte,
blieb
völlig aus; ebenso jede Hilfe für
einen geeigneten Verlag der Arbeit, die jetzt nur noch die Qualitäten
d. Anfängertums u. d. Erstlingswerkes hatte. Ferner merkliches
Verwundern, daß ich das Mündliche nicht magna c. laude gemacht hatte.
Schließlich ein ziemlich frostiger Abschied. Dieses Frostgefühl habe
ich in den letzten Tagen nicht loswerden können. Wo ich selbst frei
von jedem Nummernehrgeiz bin, deprimiert mich diese persönliche
Enttäuschung um so mehr, als gerade dort die für mich
unerschütterlichen ethischen Qualitäten und Vorbilder lagen. Ich
werde einige Zeit brauchen, um damit fertig zu werden. Hoffe ich
doch, daß er mir zur
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| Stärkung meiner Kräfte u. m.
Selbständigkeit dienen soll. Falls jedoch
<Name
unleserl.> den Verlag meiner Arbeit ablehnen sollte,
würde ich ein Gesuch einreichen, mich von der
Pflicht (!), sie drucken zu lassen, zu
entbinden.
Betrachten Sie also bitte dies als vorläufige
Nachricht; ein Brief soll in den nächsten
Tagen folgen, wenn es etwas poetischer u. inhaltvoller in mir zugeht.
Da es mir gesundheitlich recht gut geht, hoffe ich bald in neuer
Beschäftigung alte Hoffnungen zu vergessen. Über die erwähnten
Vorfälle aber bitte sprechen Sie nicht.
Für heute also bitte
ich Sie um Nachsicht. Meine Eltern lassen sich Ihnen bestens
empfehlen. Ich bin mit herzlichem Gruß
Ihr Eduard
Spranger
[] Neulich war ich mit einer
russischen Dame zusammen, die
in Straßburg mit einer Arbeit über
Fichtes Ethik glänzend
promoviert hat. Erscheint bei Meyer, Tübingen.