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Charlottenburg, den 5. April 1906.
Liebes Fräulein Hadlich!
Trotz meines
Hanges zur Bescheidenheit fängt es an, mich zu beunruhigen, daß ich
seit Ihrem Brief vom 20. März,
datiert vom 17., ohne Nachrichten von Ihnen bin. Ich hoffe, daß nur
zufällige Umstände die Veranlassung dazu sind, daß Sie selbst sich
sehr wohl fühlen, mir wohlgesinnt blieben und den Frühling genießen,
statt, wie ich, mit dem Papier zu verkehren. Fahren Sie noch nach
Schwetzingen? Was machen die keramischen
Studien, die Mißbildungen, wie hat
Gothein geschlossen und wie begann das Régime des
neuen Universitätsgewaltigen? Warum fallen die Sonnenstrahlen aus
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| dem Süden, die sonst mein stilles Dasein belebten, nicht mehr
in mein Gemach? In der Erwartung, bald von Ihnen zu hören, bleibt mir
nichts übrig, als einstweilen von hier weiter zu erzählen.
Ich
bin gegenwärtig so überlastet, daß ich selbst nicht weiß, wie ich
alles neben einander zu treiben im stande bin. Gewöhnlich häufen sich
die Geschäfte immer auf einen Termin, dann ist wieder wochenlang
nichts Erhebliches zu tun. (Hiermit beginne ich die neue amtliche
Orthographie. Näheres s. u.) Zu den Geschäften rechne ich auch
diejenigen gesellschaftlichen Verpflichtungen, die sich bei näherem
Besehen als Pflichten herausstellen und unter dem Schein, Erholung zu
gewähren, für mehrere Tage kaput
machen. So war ich Sonntag vor 14 Tagen mit
Paulsens Hinterbliebenen, d. h.
Frl. Mauderer und meinem
-Uzfreunde
Oberlehrer[3]
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Ziertmann in
Potsdam. Mauderers
Sturmlied, beiliegend, werden Sie mit medicinischer Nachsicht als
Mißbildung, aber als Schlußprodukt des genannten Tages verschwiegen
annehmen. Dazu kommen dann tausend Besuche mit Anliegen
ausgestatteter Freunde, die ihre kurzen Manuskripte geschickt durch
unleserliche Handschriften um das Vierfache zu verlängern wissen. Die
ersprießlichen verlassen den Kreis, wie
Hahn, der in nächster Woche
nach
Amerika abgeht, die weniger genießlichen
bleiben zurück.
Trotzdem bin ich nun mit meinem
Rousseau, den ich aufs
Subtilste vollgestopft habe, fertig geworden, so daß ich ihn in den
nächsten Tagen abschreiben kann. Im Herbst wird er erscheinen.
Auch Arnold Winkelried habe ich gespielt, indem ich an der
Höheren
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| Töchterschule, der Stätte meines künftigen
Wirkens, zweimal hospitierte. Der Eindruck war im ganzen ein
günstiger. Die erste Klasse, die der
Direktor mit deutscher Grammatik traktierte, war
eine recht brave Gemeinde, die das Niveau einer recht großen
"Popularität" zu wahren wußte. Bei höherer Gewöhnung, die natürlich
nur durch gemeinsame Arbeits- u. Energieentfaltung zu gewinnen wäre,
läßt sich mehr erreichen. - Die zweite Klasse, bei der ich bereits
durch Fixieren mit Augen von 5 cm Spurweite die Komik meines
Vorhandenseins gelegentlich herabmindern mußte, behandelte unter
Leitung einer Lehrerin die "Klage der Ceres". Jedes Wort, das die
Dame sagte, hätte unmittelbar gedruckt werden können; nur vermute ich
fast, daß es vorher schon gedruckt
war. Die
Leistungen und das Interesse waren hier gut, der äußere Eindruck
weniger. Mehr als die zahlreichen methodischen Bücher, mit denen mich
der wirklich sehr liebenswürdige Direktor
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| belud, erwarte
ich von der gleich anfänglichen Herstellung eines zwar straffen, aber
guten Verhältnisses zu meinen Schülerinnen. Ich werde darauf allen
Wert legen, und denke dabei an
Riehl, der sein Auditorium mit dem Auge
beherrschte, noch ehe er ein einziges Wort gesprochen hatte. Mein
Pensum ist recht groß - wie
ich mir das
Ziel denke - sehr schwer. Maria Stuart z.B. als Privatlektüre, oder
der Bau des Hexameters, sind schon bedeutende Aufgaben.
Am
Sonnabend, den 14. April beginnt mein
Troeltsch-Aufsatz in der Phil. Litteraturzeitung
langsam und allmählich zu erscheinen. Mit Zittern erwarte ich die
Korrekturen, da
Renners
Flüchtigkeit und Rücksichtslosigkeit im Teilen die schlimmsten
Confusionen herbeiführt. Ich habe ein dunkles Gefühl, daß diese Sache
noch schiefer geht, als sie bereits gegangen ist. Die Druckerei
arbeitet
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| vorzüglich, aber Renner reißt alles auseinander.
So hat er den vorzüglichen
Eucken-Aufsatz von
Leser gesechsteilt, und wer weiß, was mir
bevorsteht. Ich hatte daher von vornherein einen Separatdruck
beantragt. Man hat ihn mir aber nicht nur nicht bewilligt, sondern
nicht einmal darauf geantwortet.
Um so erfreulicher ist es
mir, von der unfruchtbaren litterarischen Arbeit auf einige Zeit
Abschied nehmen zu dürfen und in einer andern Welt zu leben. Bei der
Überproduktion der Presse kommt doch heute keiner auf den Gedanken
mehr, ein Elaborat als den ernstlichen Ausdruck aufrichtiger
Reflexion zu nehmen.
Damit Schluß dieser Zeilen,
die Sie hoffentlich im besten Wohlsein erreichen. Grüßen Sie bitte
Frl. Knaps vielmals von mir und
empfangen Sie von uns allen die herzlichsten Grüße
Ihr Eduard Spranger.