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Charlottenburg, den 5. Juni 1906.
Liebes
Fräulein Hadlich!
Der Lockung, Ihnen zu
schreiben, kann ich trotz Pflicht und Gewissen nicht widerstehen, die
mir vorrechnen, daß ich in dieser Woche noch 26 Aufsätze und
ebensoviel Verbesserungen bekomme, mich auf Maria Stuart (die ich
seit 9 Jahren erfreulicher Weise nicht angesehen) ganz vorzubereiten
habe und außerdem noch meine eignen Sachen fördern soll. Jedoch liegt
ein sehr gewichtiger Grund vor, Ihnen zu schreiben, der zunächst
darin besteht, daß ich Ihnen
zu sagen
muß, wie sehr ich Sie bei dieser Kälte auf dem Schiff bedauert habe.
Aber noch etwas Wichtigeres liegt vor: Es ist nämlich garnicht mit
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|anzusehen, daß Sie dieses herrliche Fleckchen beständig
Bacherach schreiben, während mich doch jedes Fröschequaken poetisch
daran erinnert, daß es
Bacharach heißt. Und
genau so kalt war es an dem Tage, an dem ich
Kügelgen kennen lernte, ja dies
war die erste Veranlassung. Die Karte, die Sie mir schicken
(herzlichen Dank!) zeigt gerade den Blick, den ich von meinem Fenster
aus hatte. Aber lassen Sie mich damit aufhören; denn ich werde heute
nur noch ungern sentimental.
Sie haben richtig empfunden, daß
hier bedrückende Dinge vorliegen. Das eine erwähnte ich ja schon:
Paulsens Gesundheitszustand,
der
mir persönlich derartig erscheint, daß
ich mich bereits in den Gedanken hineingelebt
[über der Zeile] habe, daß es sein letztes Semester
ist. Ich bitte Sie natürlich, darüber zu schweigen. Ebenso wie ich
darüber schweige,
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| was diese Tatsache für mich bedeutet. -
Ein weiterer verstimmender Umstand ist die für den 20. Juni
angesetzte Superrevision, die ja hoffentlich glücklich verlaufen
wird, aber erstens mit m. Unterricht kollidiert und mir außerdem
natürlich
jede Stimmung zur Ausführung der
geplanten Arbeit nimmt, die damit für ungewisse Jahre wieder von der
Bildfläche verschwindet. Sollte der erste Fall eintreten, so werde
ich Kräfte haben, dagegen anzukämpfen; ginge die 2. Angelegenheit
fehl, so wäre dies eben ein Jahr Gefängnis, für das ich z. Z. keine
Kräfte habe, wiewohl ich sie im Winter hatte.
Und nunmehr die
3. Verstimmung. Sie ist, wenn Sie so wollen, die harmloseste und
beschäftigt mich eben deswegen am meisten. Also es hat in meiner
Klasse nicht geklappt. Sie müssen nun nicht glauben,
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| daß
das meine pädagogische Zuversicht irgendwie berührt. Ich entnehme
daraus nur die Einsicht, daß meine Mittel einer Revision bedürfen,
und weil nun die Pfingstferien dazwischen fallen, ärgert mich die
Untätigkeit.
Überdies hängt der Fall mit dem Régime zusammen,
soweit es mit
meinen Ansichten nicht
übereinstimmt. Der
Direktor
will die Arbeiten, so lange es nötig ist, immer von neuem verbessert
haben; ich ließe am liebsten (bei den Aufsätzen wenigstens) schon die
1. Verbesserung fort, weil ich weiß, daß sie doch nicht ordentlich
gemacht wird. Die erste also
war gemacht
und ich hatte 14 zweite Verbesserungen zu bekommen. Die 2 Stunden
verlaufen in bester Laune, humorvoll wie nie. Nachher fülle ich die
Rangordnung auf Verlangen aus, gebe im Betragen allen 1, Fleiß u.
Leistungen nach Eindruck. Außerdem hatte ich den neuen Aufsatz im
Unreinen aufgegeben. Ich wollte ihn mir aber nicht vorlesen lassen,
um etwas
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| Selbständiges zu sehen, nur mit meinem
Schmerzenskind
Elsa Hiller
packt mich das Mitleid und ich frage, ob Sie damit zustande gekommen
sei. Antwort negativ. Ich Esel lasse mir das Diarium geben, um ihr
das Unreine durchzusehen.
Im Konferenzzimmer sehe ich mir die
Hefte an:
Elsa v. Hennig -
gähnende Leere, hat garnichts gemacht. Ebenso eine andere.
Elsa Hiller 4 Zeilen
Verbesserung in liederlichster Schrift mit 3 Fehlern. Und so ging es
von einem Heft zum andern. Nur 2 waren in Ordnung. Ich komme zu Elsa
Hillers Diarium. Ratlos sehe ich, daß es sowohl vorn als auch hinten
anfängt. Oft steht die Schrift auf dem Kopf. Wendend und drehend
genieße ich all den Blödsinn, nur von meinem Aufsatz - nicht eine
Zeile. Das ist versuchte Täuschung, ebenso wie in dem Fall Elsa v.
Hennig. Jetzt packte mich die Erregung doch etwas, erstens, weil ich
darin eine Unhöflichkeit sah, zwei
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|tens weil ich diesen
Zustand von Lodderei natürlich nicht verantworten kann. Um 11 Uhr
versammle ich extra ordinem die Schafe im Stalle, ich selbst vor
Erregung wie ein Löwe spazierend. Nun hätten Sie mal die Angst sehen
sollen; denn sie kannten mich bisher nur mit freundlichem oder
ironischem Lächeln. Ich gestehe, daß ich Mühe empfand, meine
Ausdrücke zu zügeln; aber es gelang mir, und ich glaube zum besten
der Wirkung. Nun nahm ich sie mir einzeln vor und redete etwas
militärisch (mein teurer
Nieschling wartete nämlich auf mich und kam wegen
dieses Zwischenfalles um das Zusammensein mit mir.) Ich kündigte
zugleich an, daß in künftigen Fällen das Mittel der Tadel, auf das
ich verzichten wollte, unweigerlich zur Anwendung käme u. ich den Ton
künftig abändern werde (was auch geschieht.) Jetzt kam Elsa Hiller.
Sehen Sie, dieser Fall
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| konnte und mußte mich schmerzen.
Denn ich hatte sie offenkundig bevorzugt, und statt sich Mühe zu
geben,
über hintergeht sie mich.
Realiter geschah nichts weiter, als daß ich mir die Rangordnung
zurückgeben ließ und alle Sünderinnen im Fleiß um 1 Nummer
herabsetzte. Der moralische Eindruck war groß: die Lehrerinnen wußten
in 3 Minuten alle, was vorgefallen war und versäumten nicht, auf
Elsa Hiller, die sie heulend
vorfanden, ich weiß nicht auf Grund welcher Kenntnis und welches
Gegenstandes sofort - weiterzuschimpfen.
Dies also der
tragische Fall, der mich deshalb noch heute beschäftigt, weil ich den
pädagogisschen Eingriff, der nötig ist, eben der Ferien wegen nicht
fortsetzen konnte. Aber natürlich wird alles Versprochene
gehalten.
Von Donnerstag an gebe ich 1 Stunde Religion in der
ersten Klasse. Was meinen Sie, soll ich auch dort beginnen:
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| Sie werden Ihren Herrn Jesum Christum schon kennen
lernen!!
Fast möchte ich auch Ihnen das zurufen, weil Sie mir
eine Antikirchenrede zudenken. Ich fürchte, sie würde mich gegen die
Kirche als solche nicht überzeugen, vielleicht nur gegen
diese Kirche. Nun, aber diese Predigt
überlasse ich
Frl. Thönes.
Es gäbe noch viel, indessen der Dienst! Ich habe in den
Pfingstfeiertagen wieder etwas Gehöriges gearbeitet. Was sagen Sie zu
Hermanns Aufsatz?
Der
erste Pfingstgruß, den ich erhielt, war aus Freudenstadt.
Nun genießen sie alle zusammen
noch recht schöne Tage und denken Sie an mich, wenn Sie im Glücke
schwimmen. Wir alle grüßen Sie herzlich. Bitte auch
Hermann u.
s. Frl. Braut sowie
Frl. Thönes zu grüßen. Den
nächsten Frühschoppen auf Ihr allseitiges Wohl.
<li. Rand>Ihr Schulmeister
E.S.