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Charlottenburg 2, den 4. November 1906.
Liebes Fräulein Hadlich!
Jetzt haben
Sie keine Zeit, Briefe zu lesen. Aber da
ich Ihnen neulich die Klagelieder Jeremiä sandte, muß ich Ihnen nun auch über den
Fortgang des Miserere berichten, und wenn Ihnen die Sache zu
ausführlich wird, so legen Sie es fort bis zum Bußtag. Vorher aber
möchte ich fragen, wie es mit
Hermann steht? ich
habe den versprochenen Brief nicht erhalten und weiß nicht einmal,
ob er nun wirklich dient. Wie viel schöner
wäre es jetzt zu vieren in
Schlierbach, im
Streit über die Theologie; wieviel würde ich darum geben, wenn ich
diesen "Spitz" haben könnte! Ich wollte Ihnen klipp und klar
beweisen, daß Sie eine Heidin sind; denn wie könnten Sie sonst Göttin
der Eintracht sein? - "Entbehren heißt es, sollst
entbehren!"
Mein mürrisches Benehmen führte zu einer sehr
klaren Aussprache. Der
Direktor
zählte die Punkte, ich machte sie namhaft. Über den Fall
Laabs und die Religionsstunde
vermochten mich seine Gründe nicht zu beruhigen. Aber ich habe mich
unumwunden geäußert, und im übrigen nun suche ich nur den
idealen Sieg
e über Frl. Laabs. Wie ich diesen
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| davontrug, will ich Ihnen ausführlicher berichten.
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Hefte zu verpacken ist bekanntlich eine Kunst. Ich beschloß daher,
die beiden ersten mit diesem Amt zu betrauen. Am Schluß einer Stunde
(8 - 9) sagte ich also: "Ich habe einen Vertrauensposten zu vergeben;
ich habe in meiner Jugend nicht gelernt, Pakete zu packen; ist eine
unter Ihnen, die das virtuos versteht, so melde sie sich." - Nicht
eine Hand. Ich warte ab. "Herr Doktor,
Meta Heymann will es machen."
(Natürlich jüdische Frechheit.) Antwort: "Wenn Sie sich nicht zur
rechten Zeit melden können, dann lassen wir es. Ich werde also den
Schuldiener damit beauftragen." Eine Stimme: "Der Unglückliche." Von
9 - 10 war meine Stimmung natürlich verändert, und ein kleines
Ärgernis mit einer, die ich sonst sehr gern habe, machte mich trocken
und mürrisch. - Den Vorfall erzählte ich einigen Damen des
Kollegiums, natürlich lachend und spöttisch.
Frl. Naumann aber verstand mich
und meinte, sie könne sich das nur daraus erklären, daß die Klasse im
Moment nicht verstanden habe. "So, wie sie an Ihren Stunden hängen,
ist das garnicht anders möglich." Und am folgenden Tage kam sie von
selbst auf den Vorgang zurück. "Würden Sie etwas dagegen haben, wenn
ich Käthe Ihlefeldt einmal fragte, wie das möglich war?" Mir war es
recht. Nach einer Stunde kam sie mit folgender Botschaft: "Ich habe
Käthe Ihlefeldt und
Luise Goedecke gesprochen. Sie
haben gesagt: "Ja, Herr Dr. Spranger hat sich so ausgedrückt: er
hätte einen Vertrauensposten zu vergeben, und da kann man sich doch
nicht melden.
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| Das sieht ja so aus, als wenn man es ganz
besonders schön verstände. Herr Dr. war nachher so verstimmt, und da
hat es uns gleich so leid getan, denn wir haben doch die Stunden so
sehr gern. Es war schon vor Michaelis schon
immer so wundervoll; aber jetzt ist es garnicht mehr so nett; und das
macht bloß, weil die dumme 2. Abteilung dabei
[über der Zeile] ist, die sind noch so jung und so
dumm. Und es tut uns doch
zu leid." Frl.
N.: "Na, dann sorgt nur bei Gelegenheit, daß Ihr das wieder in
Ordnung bringt." - Am nächsten Mittwoch ging ich gleich ins
Konferenzzimmer. Als ich die Treppe hinunterging, begegnet mir
feierlich und ernst Käthe Ihlefeldt u. Luise Goedecke. Ich ahnte die
Ansprache (Nun sagten sie gerade das Gegenteil von dem, was sie
eigentlich meinten.) "Herr Dr., würden Sie gestatten, daß wir uns
einen Augenblick mit Ihnen unterreden (!). - Bitte sehr! - Frl.
Naumann hat uns gesagt, daß Sie uns das neulich sehr übelgenommen
haben. - Übelgenommen weiter nicht. - Wir möchten Sie bitten, Ihren
Ton gegen uns doch wieder zu ändern; wir werden ihn dann auch
ändern." - Die Sache ist längst erledigt; aber ich danke Ihnen, daß
Sie mir das gesagt haben", - und damit gab ich beiden die Hand. Unten
erfuhr ich, daß sie zu fünfen schon in großer Erregung auf mich
gewartet hätten. Natürlich war die Stunde sehr vergnügt.
Nun
kam das Reformationsfest; der
Direktor fragte, ob ich meine Rede in 2 Teile
zerlegen könnte, oder ob er noch ein Gedicht einlegen sollte. Dann
sollte ich eine aus m. Klasse nennen. Natürlich war nur das letzte
möglich, und ich nannte
Hedwig
Wolter, enfant terrible von Ruf, die ich sehr gern habe,
rundlich, voll Temperament, mit herrlichen offnen Augen und sehr
leicht schmollenden Lippen.
Am 2.XI. komme ich die Treppe
herauf, großer Kriegsrat: Wir haben die Programme ändern müssen,
Hedwig Wolter versagt
vollständig. Gestern habe ich es ihr überhört; da hat sie an allen
Gliedern gezittert und ist immerzu stecken geblieben. Schön. Wie ich
aus dem Direktorzimmer herauskomme, steht Hedwig Wolter glutrot vor
mir, grande Dame, weiße Boa, wallender Hut. "Na hören Sie mal, Sie
haben uns ja schön sitzen lassen." "Ach, Herr Doktor, ich kann es
ganz sicher und ich bleibe ganz gewiß nicht stecken, ich trau mich
nur nicht, es Herrn
Direktor zu
sagen." Na, dann kommen Sie, dann wollen wir zusammen hingehen. Neuer
Kriegsrat. Ein reitender Bote meldet: Es bleibt beim Alten, Frl.
Wolter wird auftreten.
Nun kam meine Rede; ich war
vortrefflich disponiert, ließ nicht das kleinste Faktum
[über der Zeile] aus, sprach mit steigender
Begeisterung und mit sichtlichem Erfolg. Denn die Mädchen lauschten
gespannt und das Kollegium ärgerte sich. Den Schluß der Feier
dirigierte ich.
Hedwig Wolter
kam; ich sufflierte. Hinter jedem Vers ließ sie 10 aus, blieb 4mal
stecken und nach einem unrichtigen Schlußsatz sprang sie fort und
verschwand unter der Menge. Aber es blieb ja unter uns, und als Gäste
waren nur eine Mama und ein Papa
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| erschienen, wovon der
letztere der meinige war. Also war alles glücklich beendet. Am
nächsten Morgen hatte ich Inspektion; da blieben die Vorüberziehenden
an meiner Ecke stehen und beguckten mich sehr genau; sie dachten
wohl, ich würde nun Direktor werden. Da kam auch
Klara Runge, die jetzt bei
Frl. Laabs Deutsch hat. "Na,
wie geht es Ihnen denn jetzt, Klara Runge?" Große, freudige
Konsternation. "Was machen Sie denn in Deutsch? Haben Sie schon einen
Aufsatz geschrieben?" "Ja, wir haben zu heute einen auf", stotterte
sie. "Wie hieß denn das Thema?" - - Das - weiß ich nicht mehr (!). -
- - Ach ja: Das Lutherdenkmal, ich habe noch viel von dem verwertet,
was Sie gestern gesagt haben." - - Sehen sie, darüber wird sich Frl.
Laabs gewiß freuen; denn so haben es natürlich alle gemacht.
Das also sind so kleine Schulplaudereien. Der
Direktor behandelt mich mit
einer Delikatesse, die wirklich nichts zu wünschen übrig läßt. Nun
werden Sie verstehen, daß der Fortgang von
Frl. Naumann, die 8 Wochen
Urlaub nehmen mußte, mir einen großen Verlust bedeutet. Denn sie
hatte wirklich das Interesse, mir zu helfen und meine Freude an der
Sache warmzuhalten. Im ganzen aber kann ich Ihnen versichern, daß
dieser Unterricht mit alll seinem Kleinen und Kleinsten
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mich absolut glücklich macht. In der 3. Klasse (ach so, das sind die
Religionsstunden, die keiner haben wollte, - meinte die
Zeichenlehrerin) bin ich wirklich unter Kindern, und wir vertragen
uns
sehr gut; denn ich habe so viel
Heiterkeit und Verständnis für Kinder, daß ich selbst im
Religionsunterricht keinen Talar anziehe. Das ist übrigens noch nicht
viel wert; ich muß mich noch mehr dahineinversenken können.- Die
Aufsätze waren wieder ganz vortrefflich. Und wenn Sie gesehen hätten,
wie sie gestern bei der Einleitung zum Erlkönig lauschten - Sie
hätten Ihre Freude gehabt. Ich lese übrigens, obwohl garnicht dafür
begabt, mutig alles vor, ja ich singe sogar im Notfall, und der
Erfolg ist sehr gut.
Paulsen fand ich am Abend des Reformationsfestes
recht gut aussehend.
Frl.
Mauderer läßt Sie mit Emphase grüßen. Sie hat mich nach
Kiel eingeladen. Kurz nach Weihnachten, wenn
ich nicht irre, ist Hochzeit.
Wissen Sie, daß ich früher auch
philosophierte? Es ist lange her.
Hahn gibt mir hin und wieder einen Stoß. Aber es
geht nicht mehr. Wenn Ihr nicht werdet wie die Kinder...Bitte grüßen
Sie
Frl. Knaps und
Frl. Thönes. Verleben Sie die
Tage recht froh. Meine Gedanken sind wüst, aber sie werden
<li. Rand> bei Ihnen sein.
Meine Mutter läßt herzlich
danken für
<Kopf> die schöne Karte. Herzliche
Grüße v. uns allen Ihr E.S.