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Charlottenburg 2, Kantstraße 140.
Den 22. Dezember
1906.
Liebes Fräulein Hadlich!
Nach den unbestimmten Andeutungen Ihres letzten Briefes weiß ich
kaum, wie und wo Sie Weihnachten feiern. Wo es nun auch sei, so
wünsche ich, daß die echt weihnachtliche Stimmung Sie erfüllen möge,
die jetzt auch den Widerstrebenden mit sich fortreißt, wie viel mehr
den Empfindenden.
Wir haben uns zu Weihnachten immer besonders
viel zu sagen gehabt, und auch diesmal erfüllt uns wohl Gedenken an
Vergangenes und Zukünftiges. Ihre Zeilen von neulich brauchten mir
nicht erst die Gewißheit zu geben, daß wir verbunden durch das Leben
gehen. Ich weiß es längst, und sollte ich je daran zweifeln, so müßte
ich aufhören, über mich selbst klar zu sein. Auch in der geistigen
Welt gibt es
Fakta, die ganz unabhängig
davon existieren, ob Sie oder ich im Moment geneigt sind, sie
anzuerkennen. Vor einem Jahr konnte ich Ihnen - gleichsam in einer
Handarbeit - einiges sagen, was vielleicht
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| teilweise den
Reiz des Neuen hatte. Ich könnte heut nur dasselbe wiederholen; es
ist für mich in den markigen Linien, die ich inzwischen meinem
Lebensgange geben durfte, ein scharfer, unverlöschlicher Zug
geworden. Die wenigen Worte, die ich diesmal gefunden habe, drücken
nach meinem Gefühl mehr aus als alles Frühere. Denn ich bin aus dem
bloßen Genuß einer stillen Innerlichkeit, die wir in manchen
reizvollen Stunden teilten, hinausgetreten in den Beginn einer
Wirksamkeit, die, wie sie sich auch gestalte, immer wieder von Ihnen
reden wird. Deshalb habe ich die eine Weihnachtsbitte: Glauben Sie
diesem Bekenntnis und stoßen Sie sich nicht am Kleinen und Kleinsten;
wir wollen beide unsre Nervosität im neuen Jahr dämpfen und mit
gläubigem Vertrauen das große Glück genießen, das uns in uns beiden
gegeben ist. Dazu gehört auch, daß die
Rücksichtnahme einer gewissen Art in den
Hintergrund tritt. Sie müssen nicht meine Zeit schonen wollen. Denn
es kann wohl sein, daß ich beschäftigt bin; aber bisher hat kein
Geschäft mir wertvoller sein können, als das, was Sie
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| mir
gaben. Und wenn ich zuweilen schroff erscheine, so ist das gewiß ein
Fehler, eine momentane, tadelnswerte Reizbarkeit. Aber es ist doch
nicht immer ein Fehler, sondern vielleicht teilweise nur eine Folge
der veränderten Ausdrucksweise, die ein Gedanke beim Durchgang durch
das männliche Denken annimmt, und teilweise ein Zeichen dafür, daß
gewisse Überzeugungen in mir fester, die Möglichkeiten begrenzter
werden. Ich habe eine Schule des allseitigen Verstehens bei
Dilthey durchgemacht, aber ich
habe gesehen, daß man mit
dieser Toleranz
nicht leben kann, daß auch der geistige Organismus einen Knochenbau
verlangt. Aus dieser Tatsache kann uns nur dann eine ernstliche
Gefahr erwachsen, wenn es uns an freier Aussprache hindert, so daß
bald ganze Gebiete erstehen, um die wir mit ängstlicher Schonung
herumgehen müßten. Denn das sind niemals die Gebiete, auf denen die
Ansichten divergieren, sondern die, auf denen man der Divergenz nicht
mutig bis auf Wurzel nachgegangen ist. Ein solches Gebiet sehe ich
bei uns nicht. Wir sind im Herzen ganz einig, und die Verschiedenheit
der Bilder wird uns eher wertvoll als
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| störend werden, je
mehr wir sie aus dem Ganzen unsrer Naturen, vielleicht aus der
Kampfstellung eines jeden von uns verstehen. Denn was der Mensch
ablehnt, ist für ihn charakteristischer als was er zugibt.
Die
Gefahr, vor der
Frl. Knaps Sie
warnte, daß wir christlich werden könnten, sehe ich in sehr naher
Nähe, für mich fast vor Augen. Und damit komme ich auf die
beiliegenden kleinen Bücher. Ich entschuldige mich nicht wegen der
Einfachheit dieser Weihnachtsgabe; der hätte sich abhelfen lassen,
wenn meine Absicht darauf gerichtet gewesen wäre. Mein Gedanke dabei
aber war ein tieferer: nämlich der, Ihnen das Wertvollste auf den
Weihnachtstisch zu legen, was mir in meiner ausgebreiteten Lektüre
1906 begegnet ist. Besonders "Die Briefe über Religion" stelle ich
Ihnen zur eingehenden Diskussion; in dem andern betone ich mehr das
Ästhetische.
Möge das Weihnachtsfest nun Sie alle in
fröhlichem Kreise vereinen. Grüßen Sie bitte alle Ihre Lieben von
mir, vor allem
Hermann und
seine Braut. Ich muß am 1.
Feiertage wieder einmal Pate stehen, eine mir im höchsten Grade
dubiöse Funktion. Sonst
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| folgt mir auch in diesen Tagen die
Arbeit. Ich muß täglich zu meinem Direktor, der - nachdem seine Diss.
zu meiner Freude angenommen worden ist, - Anfang Januar in
Gießen promovieren wird. Mein großer
Jahresbericht ist mir soeben in Correktur zugegangen und wird auch im
Januar erscheinen (ca 1400 Zeilen). Nur
Rousseau, der übrigens in
Diederichs' Weihnachtskatalog
schon angezeigt ist, rührt sich noch nicht. Hingegen werde ich den
Entwurf für die ersten 150 Druckseiten meines
Humboldt in den
Weihnachtsferien ausarbeiten; vielleicht wird der erste Band noch im
Mai fertig.
Ich habe hier in dieser Woche eine sehr schwere
Situation gehabt, die ich Ihnen nicht in der Kürze entwickeln kann.
Renner wollte eine große
Philosophische Gesellschaft für ganz Deutschland gründen. Es entstand
für mich die Frage, ob ich allein weitergehen sollte oder von
vornherein Anteil an der Leitung dieser Bewegung suchen sollte. Im
Ehrenpräsidium sollen sein - und sind -
Dilthey,
Riehl,
Meinong; in das Präsidium
sollte ich mit aller Energie gewählt werden. Bei der
Generalversammlung habe ich erkannt, daß
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| es sich um eine
ganz unreife und ziellose Sache handelte, durch die ich meine
Laufbahn ernstlich gefährdet hätte. Ich trat also als lebhaftester
Opponent auf und lehnte die Wahl trotz alles Dringens standhaft ab.
Damit wird wohl mein gutes Verhältnis zu Renner sein Ende erreicht
haben; ihm zu liebe habe ich mich bewegen lassen, die Gesellschaft
mitzukonstituieren; aber die Diskussion zeigte klar, daß sie tot
geboren, vielleicht nur ein finanzielles Unternehmen ist, in das man
mich durch Überrumpelung hineinziehen wollte. -
Heute nun bin
ich noch berauscht von unsrer gestrigen Weihnachtsfeier in der
Schule. Auch diese brachte Ärger für mich. Ich sollte an der Tür die
Honneurs machen; aber ich habe dieses Ansinnen glatt abg
[über der Zeile] elehnt, was zu einem neuen Konflikt mit
Frl. Laabs führte. So war ich
mit meinen Eltern und
meinem Onkel
rein a. G. anwesend, übrigens der Gegenstand einer neugierigen
Aufmerksamkeit, die mir wenig Freiheit gestattete. Die Kleinen
spielten reizend; ein Weihnachtsreigen gehörte zu dem
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Feinsten und Anmutigsten, was ich gesehen habe.
In der Erwartung bezüglich der
Richteraufsätze habe ich mich nicht getäuscht. Sie waren
[über der Zeile] 6 sehr gut prachtvoll , voll
rührenden Fleißes und Verständnisses. Das letztere natürlich in den
erwarteten Grenzen. Vielleicht lesen Sie einmal einige Muster des
Schlusses und senden mir den Zettel zurück. Leider habe ich
Meta Heymann gegenüber einen
Mißgriff gemacht, der amtlich vollkommen richtig war, aber ein grober
pädagogischer Fehler, weil er geeignet war, das Vertrauen der Klasse
zu mir zu erschüttern. - Finden Sie es übrigens passend, daß mich bei
dem gestrigen Feste höchstens 1 oder 2 zuerst grüßten?
In der
1. Klasse habe ich in einer Vertretungsstunde die
ganze Geschichte der Architektur von
Griechenland bis heute vorgetragen, daß ihnen
Hören und Sehen verging. Die Mädchen waren nachher ganz aufgeregt. -
Einen Zwischenfall lege ich Ihnen in Originalkorrespondenz bei. Die
Abänderungen in m. Antwort beruhen auf Wunsch des
Direktors.
In den Ferien
werde ich viel Besuche, auch auswärts machen müssen, ferner die
Nationalgalerie und das Museum studieren für
Humboldt. Die pädagogische
Sache kommt wieder nicht zur Reife, obwohl sie eingehend verhandelt
worden ist.
Frl.
Mauderer ist nun seit gestern Frau Kaftan; ich war weder bei
dem Polterabend bei
Sr. Magnificenz, noch auf der Hochzeit selbst.
Geschenkt habe ich ihr
Bielschowskys Goethe, nachdem ich mit der gewünschten
Korridorampel nicht zu stande gekommen war.
Meine Eltern grüßen Sie herzlichst und wünschen Ihnen mit mir
fröhliches Fest und glückliche Reise. In der Hoffnung, bald Gutes von
Ihnen zu hören, verbleibe ich mit weihnachtlichem Friedens- und
Freudesinn
Ihr getreuer
Eduard
Spranger.