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Heidelberg. Sonntag. 17.III.07.
Lieber
Herr Spranger.
In Fortsetzung unsrer eben so
lebhaften Correspondenz möchte ich zunächst Ihre energischen Zeilen
vom 15. beanworten. Ich hatte nicht geglaubt, mit der Bitte um
Vorschläge Ihrerseits unbedingte Folgsamkeit von meiner Seite
garantiert zu haben! Aber ich sehe Ihre Gründe u. füge mich. Daß es
mir anders lieber gewesen wäre, kann ich nicht leugnen; aber es ist
nur persönliche, gesundheitliche Rücksicht, die mir diese etwas
anstrengenden Tage in der früheren Woche erwünschter gemacht hätte,
während die Hindernisse, die Sie namhaft machen, uns beiden womöglich
die ganze Stimmung verderben könnten. Denn wenn es in Bezug auf die
Ihnen befreundete Familie absolut nicht mein Ehrgeiz wäre, gesell
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|schaftlich verleugnet zu werden, so könnte doch sicher Ihre
Verpflichtung gegen dieselbe Ihre Bewegungsfreiheit stören. - Und gar
die Veranlassung zu sein, daß Sie zweimal in so kurzer Zeit fahren
müßten, möchte ich nicht verantworten; u. so muß ich auch gestehen,
daß mein etwas unüberlegter Vorschlag mit
Halle mich reut. Wenn es auch kein gleichseitiges
Dreieck ist, daß Sie umfahren müßten, wie Sie behaupten, so wäre es
doch ein Umweg von 2 - 3 Stunden u. ich hatte,
ein Wunsch dadurch eine Bekanntschaft zwischen Ihnen u.
meiner Freundin zu vermitteln,
die Sache für weniger umständlich gehalten. Ganz so dumm, wie es
Ihnen erscheint, ist es auch wirklich nicht gewesen. Denn wenn ich um
11.20 in
Cassel abfahre, bin ich 2.55 in H.,
Sie könnten etwa 1/2 Stunden später dort sein u. wir nach 2 stündigem
Aufenthalt mit
Lili, um 6 Uhr
15 in
Leipzig, 8.41 in
Dresden sein. Wir hätten dann den ganzen
Mittwoch,
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| Donnerstag, Freitag zu unsrer Verfügung gehabt
u. da Gründonnerstag laut Baedecker die Galerien auf sind, Freitag
die Natur zu Werte kommen konnte, wäre so lange ich nichts von Ihren
Gegengründen wußte, wirklich nichts einzuwenden gewesen.
Aber
darin stimme ich völlig mit Ihnen überein, daß jetzt endlich eine
definitive Bestimmung erwünscht ist. Ich denke also von
Halle aus am Dienstag, d. 2. April etwa um 11
Uhr in
Dresden einzutreffen. Wir begegnen uns
dann vielleicht bei der
Sixtina!!! -
Die Züge suche ich mir noch genau aus, denn ich habe
augenblicklich nur ein altes Cursbuch, aber so verkehrt ist es
keinesfalls, daß man nicht ungefähr sich orientieren könnte. Danach
sehe ich auch, daß es ganz unmöglich ist, in 7 Stunden von
Cassel nach Dresden zu kommen, es sind im
besten Fall 9 1/2 Stunden, u. das ist mir auf einmal zu viel. Ich
werde also jedenfalls auf beiden Fahrten in Halle
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| Station
machen, da die Fahrzeit auf der Eisenbahn nicht einmal auf dieser
Strecke länger ist. -
So, das wäre wohl alles. Und das Weitere
wollen wir unter das Zeichen der Frühlingssonne stellen, nicht wahr?
Hier scheint sie nicht. Hoffen wir also, daß sie in den nächsten
vierzehn Tagen Herr über alle Wolken geworden ist.
Alles, was
Sie mir neulich schrieben u. schickten, beschäftigt mich lebhaft. Wie
schön u. warm sind die Verse für die Kinder! Wie dankbar bin ich
Ihnen, daß Sie mich so an Ihrem begeisterten Leben u. Streben mit
Ihrer Klasse teilnehmen lassen. Wie freue ich mich an dem
verständnisvollen Echo, das Sie bei den Mädchen finden. Denn ein Echo
ist es, Ihr Geist u. Ihre Wirkung, die Ihnen da zurückstrahlt. Die
Mädchen sind zunächst persönlich, u. daß Sie es verstehen diesem
jugendlichen, naiven Anschlußbedürfnis höhere Ziele, geistigen
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| Inhalt zu geben, ist das Schöne u. Wertvolle, das
Unvergängliche. Was haben diese Mädchen für Glück, einem solchen
Lehrer in die Hände zu kommen!
Was mag denn nun mit
Frl. Laabs vorgefallen sein? Es
ist doch schlimm, daß man die Menschen nur nach ihren Kenntnissen,
nicht nach ihrem inneren Beruf zum Lehramt prüfen kann. Wenn dieses
Juwel nun zu Ostern die Schule verläßt, wird sie womöglich mit einem
ehrenden Abschied entlassen? Lebhaft werde ich Ihrer am 23. gedenken.
Aber wenn nun auch manche der Kinder Ihrem persönlichen Einfluß
entrückt werden, Ihre Wirkung werden sie nie im Leben abschütteln.
Das weiß ich gewiß. Und wenn es Ihnen nicht darum zu tun wäre, wegen
des pecuniären Ertrages müßte man Ihren Aufwand an Kraft für die
Sache wirklich als Frevel bezeichnen.
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Die
Bekannschaft mit
Rousseau, die
Sie mir vermittelt haben, interessiert mich
sehr. Darf ich die Blätter noch etwas behalten?
Sonst schreiben Sie mir, bitte
gleich eine
Karte. Der eigentlich verworrene Charakter dieses Menschen scheint
mir sehr verständnisvoll u. vorurteilslos geschildert. Trotzdem kann
man für diesen willensschwachen
Menschen
keine Sympathie haben u. so ist mir auch, obgleich
[über der Zeile] ich wohl
Ihren Sinn verstehe, den Sie in die
Widmungsworte legen, - doch die Parallele für uns beide nicht recht
erwünscht. Möchten Sie um den Preis eines solchen Charakters u.
Lebens berühmt sein? Gelt, das ist kleinlich von mir - doch nein, ich
glaube nicht.
Ich freue mich sehr darauf, wenn dann erst in
der Auswahl aus seinen Werken die Züge des Bildes, das Sie gaben
vertieft u. ergänzt durch seine
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| eignen Worte mir
erscheinen wird. Ich werde dann dem Schriftsteller, dem strebenden
Geist, der von so weittragender Wirkung sein konnte, gerechter
werden. Bis jetzt kann ich den Zwiespalt seines Wesens nicht einmal
tragisch empfinden, weil er selbst ihn nicht zu überwinden, sondern
zu verleugnen sucht!
Doch ich will jetzt in die
Bunsenstraße gehen.
Meine Freundin trug mir heut
morgen herzliche Grüße an Sie auf. - Von Samstag an ist also meine
Adresse in
Cassel wieder
Augustastr. 4.III. Wir wechseln dann wohl noch
einmal Nachricht, ob alles so bleibt u. alles andre bleibt für den
mündlichen Austausch. Ich freue mich sehr, möge der Himmel mit uns
sein. Herzliche Grüße an Ihre Eltern u. Sie von