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Cassel. 25. März 1907
Lieber Herr
Spranger.
Jetzt kommt der Widerruf! Haben Sie
sich das nicht gleich gedacht? Denn was könnte ich sonst wollen! Nun,
vielleicht wird es nicht so schlimm, denn in der Tat bezieht es sich
nicht auf die Dresdener Pläne, sondern nur auf meine Zweifel an Ihren
Kursbuchangaben, die mit meinem antiken Exemplar unvereinbar waren.
Hier sehe ich, daß Sie für die Hinfahrt recht haben, aber daß
tatsächlich die andere Strecke keine Verzögerung[über dem Gestrichenem] längerung der Fahrzeit bringt.
Also ich fahre über Halle.
Seit
vorgestern bin ich nun hier u. genieße wohlig das Behagen im
Familienkreise. Es ging mir so wenig
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| gut die letzte Zeit
u. da sind solch angenehme Eindrücke eine wahre Erholung. In
Heidelberg habe ich es ja sehr gut, aber
bisweilen werden immer die gewohnten Verhältnisse, mit denen man
täglich oft so vergebens ringt, zur unerträglichen Last. Ich weiß,
daß sie dennoch das mir Lebensgemäße sind, aber ich finde die rechte
Stellung dazu wieder leichter nach einer Pause, die die
Reibungsflächen für ein kleines Weilchen ruhen läßt. Dies Herausheben
aus dem gewohnten Tagelohn, die Fähigkeit wieder drüber zu stehen,
erhoffte ich von
Dresden.
Vorerst hat
mich das, was Sie mir in der letzten Zeit alles sandten viel
beschäftigt. Vor allem
Rousseau, die Tatsache seiner großen u.
lebenskräftigen Wirkung bei einer so wenig achtungswerten
Persönlichkeit. Ich fühle, daß hier mehr wie je Ihre tröstlichen
Worte von dem Wert des "Wollens, nicht
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| dessen was wir
schon sind", die mir in meiner Depression so wohltuend hinein
klangen, anzuwenden sind. Und doch ist es eigentlich das
Wollen, daß ich bei Rousseau schwer
erkenne. Mir kommt es vor, als wenn er den Zwiespalt zwischen Tat u.
Urteil, der ihn quält, nicht durch den Entschluß zur Selbsterziehung,
sondern durch ein Anpassen des Urteils erreichen wolle. Vielleicht
eben war in ihm die Liebnatur so unüberwindlich, daß dies der einzige
Weg schien, u. die Kraft einer Sehnsucht nach jener idealen Einheit
von Wollen u. Tun war in seiner Lage durch Anlage u. Umgebung schon
eine Tat. - Noch schwerer verständlich aber ist mir die
Frau v. Warens. Was kann das
für eine Religiosität sein ohne Moral u. Dogma? gibt es Religiosität,
die nicht zugleich sittliche
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| Kraft wäre? Vielleicht können
wir von dem allen noch reden, ich habe vorerst das Gefühl einer
fremden, unverständlichen Welt.
Sehr entzückt bin ich von
Ihrem Aufsatz über "Humanistische Gymnasien." Hrzl. Dank für die
Übersendung. Mir ist dieser Begriff zur der Ausbildung zur Humanität, der im
Geist, nicht im Stoff des zu Lehrenden beruft höchst entsprechend.
Der Aufsatz ist wieder so gedankenreich, daß ich ihn noch oft lesen
muß.
Gestern nun habe ich mit großem Interesse an Ihrem
platonischen "Gespräch über die Liebe" mit
Hermann teilgenommen durch
Ihren Brief an ihm. Die Gedanken darin, die mich teilweise gerade in
bezug auf Sie schon manchmal beschäftigt haben, treffen wie so oft
schon, sehr mit meinen eignen
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| Eindrücken von Ihrem Wesen
zusammen. Es ist sonderbar, daß ich allerlei Ähnliches in
Dresden zu besprechen hoffte. Ihre Äußerungen
über die beiden fraglichen Charaktere, mancherlei im Rousseau hatten
mich wohl momentan darauf gebracht. Was aber Ihre innere Stellung zur
Ehe überhaupt betrifft, so habe ich immer gehofft, daß die
pädagogische Leidenschaft Sie wohl vor übereiltem Anschluß hüten,
aber nicht hindernd vor einer wirklich auf innerer Übereinstimmung
beruhenden Neigung stehen werde. Daß diese verständnisvolle Berührung
mit andern Menschen Sie im Gegenteil klarer im gefühlsmäßigen Urteil
machen werde u. vor einer Illusionsfähigkeit bewahre, die mir z. B.
bei Hermanns glücklicher Wahl mehr oder minder als
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| einen
Zufall erscheinen läßt. Auch unsre Freundschaft, so hoffte ich, könne
wohl in diesem Sinne wirken.
Ob dieser pädagogische Zug in
Ihrer Natur einem eigentlichen Eheglück entgegen wirkt, hängt wohl
mehr von dem Wesen der Betreffenden selbst ab. Sie werden sicher nie
in so plumper, gewalttätiger Weise eingreifen wollen, daß es
notwendig zur Last wird. Das Bedürfnis einer gegenseitigen Ergänzung
u. Förderung der Naturen im gemeinsamen Zusammenleben, (nicht eine
einseitige, bewußte u. selbstbewußte Erziehungssucht) muß u. kann
aber doch nur der tiefste Sinn einer Ehe sein. Was mir die
Möglichkeit eines gleichmäßigen Glückes bei Ihnen weit zweifelhafter
macht, ist die Heftigkeit,
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| mit der Sie auf die geringste
scheinbare oder wirkliche Dissonanz reagieren. Wie Sie bei dem
kleinsten Widerstand oder Mißverstand sofort mit einer völligen,
leidenschaftlichen Ablehnung antworten. Hier wird Ihre Frau einmal
mit dem unermüdlichen Verständnis tiefster Liebe auszugleichen haben.
Eins aber glaube ich mit Sicherheit annehmen zu dürfen, daß niemals
irgendeine Rücksicht, sondern nur eine zwingende Neigung seinerzeit
Ihren Entschluß bestimmen darf u. wird? -
Doch nun zum Schluß
noch ein wenig von mir. Ein schauderhafter Husten, der mich die
halben Nächte wach hält, läßt auch mir jetzt Ihre energischen
Reisebestimmungen erwünschter erscheinen. Denn es wäre mir wohl kaum
möglich, so
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| wie ich augenblicklich bin, zu reisen. Was
meinen Sie übrigens mit der Randbemerkung in H's. Brief - "meinen
Brief fehlte ====> "? Richtung? Inhalt? Unterschrift? Sinn?
Halb im Scherz, halb ärgerlich imitierte ich den Ton Ihrer
"sachlichen Auseinandersetzung". Man soll wohl brieflich nicht
dergleichen tun, weil man den Ton eben nicht mitschreiben kann, der
Ernst u. Scherz auseinanderhält. Denn wenn mich Ihre Antwort "wenn
Sie triftigere Gründe haben" auf meinen Wunsch aus Rücksicht auf
meine Gesundheit diese Woche schon zu reisen, auch verstimmt hatte,
so ists doch nicht sehr tief gegangen. Und ich hätte vielleicht
schlauer getan, dies unumwunden zu sagen, als durch ein confuses
Gemisch von sachlich sein sollenden Erwägungen und halb scherzenden
Angriffen anzudeuten. Jetzt sagen Sie bitte ehrlich, was sie meinen.
Mit herzlichen Grüßen an Ihre Eltern u. Sie
Ihre Käthe Hadlich.