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Heidelberg. 4. Mai 1907.
Lieber
"Dresdner" Freund.
Es ist nichts mehr mit Sonne
u. Blüten hier u. Ihre günstigen Vorurteile für die Neckargegend sind gänzlich unbegründet. Ob es
überhaupt diesmal Frühling wird, ist noch ganz unentschieden.
Vielleicht fangen wir gleich beim November wieder an. Weitere
betrübende Nachrichten sind die vom Aussterben der mit Recht so
beliebten Kilometerhefte. Die werden jetzt im Laufe des Jahres alle
zu ihren Vätern versammelt. - Bei Schwalbes sind die Masern, also
sind meine Stunden wieder unterbrochen - kurz, es gibt garnichts
Erfreuliches.
Wenn es dann doch wenigstens von Ihnen käme! Das
ist ja eigentlich wohl der
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| Fall, in der Form von lieben
Briefen. Aber auch darin ist immer manch trüber Ton. Vor allem muß
ich immer an
Paulsens Krankheit
denken. Wenn doch ein mitleidiger Herzschlag seine Leiden abkürzen
möchte. Es ist zu grausam, was ihm noch bevorsteht, wenn Ihre
Vermutung Recht hat. Und was hat es für einen Sinn so unmenschlich
leiden zu müssen, wenn eine Besserung ausgeschlossen ist? Ich habe
dies Leiden jetzt schon so oft mit angesehen! - Haben Sie Nachricht
von ihm? - Was ist der Tod, daß man ihn fürchten sollte? Erlösung,
Frieden - "Ruhe in Gott" sagt die Kirche.
Können Sie diese
blinde, alles vernichtende Todesfurcht im "Prinz v. Homburg"
verstehen? Kann man so an der bloßen Existenz hängen, daß man um
ihretwillen allen Inhalt des Lebens preisgeben will?
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| Mir
scheint das eines charaktervollen Menschen einfach unwürdig. - Ist es
nicht auch ein sehr grober künstlerischer Effekt?
- Sonntag.
Bei Sonnenschein! Ich war mit
Aenne im
Kunstverein u.
dann sind wir über den
Philosophenweg
gegangen. Wir wollen auch demnächst mal zusammen in die Kirche zur
Predigt von
Frommel gehen. Aber
die Natur kann auch predigen. Wie wunderbar schön ist es jetzt,
überall dies blühende junge Leben! Es mag wohl sehr schwer sein von
alledem Abschied zu nehmen u., doch meine ich, löst sich der Mensch
im Laufe des Lebens mehr u. mehr von allem Äußeren u. wächst hinein
in unvergänglichen Besitz. Braucht man zu diesem Dasein im Angesicht
der Ewigkeit notwendig den Glauben an persönliche Fort
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|dauer? Ist nicht gerade das Persönliche notwendig ein
begrenztes Endliches? Und ist nicht diese Erkenntnis erst recht eine
Mahnung, "so zu leben, daß man sterben kann", d.h. so daß mein Leben
teilhatte am Unvergänglichen, an göttlicher Wirklichkeit? Das bleibt
ein Streben, eine Sehnsucht - aber was ist "leben" anderes! Alles
Erreichte, Vollendete ist Stillstand - Verfall. Nur die vollkommenen
Ideen leben ewig, weil sie ewig unerreicht sind, u. sie leben
in der Wirklichkeit. - Ja, das alles
ist geheimnisvoll u. unergründlich, aber nicht unheimlich, sondern
herrlich u. beglückend, denn es ist uns ja gegeben im "Gleichnis"; u.
es ganz u. unverkürzt darin zu fühlen u. zu erkennen, das ist
Offenbarung.
Für mich ist dies bewußte Erleben des höchsten
Lebensgehaltes die reinste
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| u. unmittelbarste Beziehung zum
Ewigen. Die Führung eines genialen, schöpferischen Triebes ist mir
nicht gegeben - aber ich sehe dies Wunder des Gestaltens aus dem
unbewußten Dunkel zur bewußten Klarheit in Ihnen. Ich sehe die
Sicherheit der Kraft, die aus Ihnen wirkt, u. ich glaube daran in
unbedingtem Vertrauen.
Darum verstehe ich auch Ihre Warnung
vor der "Bewußtheit des Lebens", obgleich meine Natur vor allem im
Bewußten lebt. Die dunkle Tiefe ist nur der Hintergund, in den die
Perspektive hinüberleitet, in den großen unendlichen Zusammenhang, -
leben muß ich im Licht. - Das ist Ihnen ein Armutszeugnis, ich weiß.
Aber kann ich aus meiner Natur?
Nun entspricht es ferner
meiner
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| Natur, daß mich der geschmacklose Buchstabe am
Anfang Ihrer Rousseau-Einleitung ärgert. Wollen sie nicht
Herrn Diedrichs vorschlagen,
beifolgenden kleinen Entwurf (als Zinktype zu vervielfältigen)
stattdessen zu benutzen? Er kann den Buchstaben ja dann behalten,
schöner wie seiner ist er doch wohl, ohne Selbstüberhebung! Verstehen
Sie auch die Symbolik? Ich habe daran gedacht, daß Ihnen die Arbeit
ein ziemlich "dorniges " Vergnügen war, u. dann finde ichs für
Rousseau bezeichnender, daß die
"Blüte"
eigentlich nur das Negativ
des eigentlichen Rankenornaments ist! - Gestern habe ich in einer
franz. Monographie über den
Maler La
Tour ein Porträt von Rousseau gesehen. Das ist sehr
merkwürdig; etwas eng stehende, lebhafte u. leuchtende, dunkle Augen,
ein
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| weichlicher Mund, ein hübsches Gesicht im Ganzen, aber
doch unsympathisch. Was gibt es noch für Bilder von ihm?
Das
Buch von
Osborn will ich mir
von
Arnold Ruge besorgen
lassen. Ich kann von der Bibliothek nur durch Vermittlung Bücher
bekommen. - Denken Sie, A. R. erklärte mir, Nierenentzündung zu
haben. Das ist doch wohl recht bedenklich? Er sieht auch ziemlich
elend aus.
Und wie geht es Ihnen? Sind Sie vernünftig? Sie
wissen ja doch, was von der Basis einer leidlichen Gesundheit
abhängt. Tun Sie das Ihrige dazu, daß sie vorhält. Denn, daß sie
ausfällt, damit haben die "Heiligen" nichts zu tun, sondern
Ihr vernünftiger guter Wille!
Daß
die Schule Ihre Kräfte eben weniger
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| intensiv fesselt, ist
bei den vielseitigen anderen Anforderungen sicherlich nur gut. Sie
dürfen wirklich nicht so auf Ihre Gesundheit losstürmen. Die
Geschichte mit dem Aufsatz ist sehr nett. Jetzt wird der Ehrgeiz wohl
gemacht sein. Ja, die weibliche Gründlichkeit ist so eine Sache!
Dreimal steht unter dem Jahresbericht die Titelangabe, ohne daß es
bis zu meinem Verständnis gedrungen wäre! Ich danke für Ihre
schonende Aufklärung. - Sehr herzlich danke ich auch nochmals für die
Karte
Ihrer lieben Mutter. Sie
sagten doch, daß sie es im ganzen nicht gern täte, mir zu schreiben,
so waren die lieben Zeilen mir unerwartet u. doppelt erfreulich. Ich
will ihr doch mit dem bißchen Unkraut nicht auch noch Mühe machen!
Hoffentlich sind Sie alle gesund?
Recht
herzliche Grüße an Ihre Eltern u. Sie sendet
Ihre
Käthe Hadlich.