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Charlottenburg, den 4. Oktober 1908.
Liebe Freundin!
Ihren lieben, heute
erhaltenen Brief beantworte ich unter den drangvollsten Umständen.
Ich erhalte jetzt täglich 12 - 14 Fahnen (= 24 -28 Druckseiten)
Korrekturen, und das geht noch 14 Tage so weiter. Dabei kaltes Blut
zu bewahren, ist nicht leicht. Ich möchte Ihnen aber doch kurz über
die Eindrücke der letzten Woche berichten, wenn auch manches dabei
die lebendige Farbe verlieren sollte, die es hatte.
Der
Abschied von der Schule brachte mir so viele innere und äußere
Zeichen der Liebe und Verehrung, daß mir der an sich schmerzliche
Augenblick dadurch zu einer erhebenden und versöhnenden Stunde wurde.
Ich schloß am Montag meinen Unterricht mit kurzen Worten des
Abschiedes, die ein tiefes Echo fanden. Die Mädchen weinten; ich
selbst war meiner Bewegung nicht ganz Herr. Während ich in das
Konferenzzimmer ging, war der
Direktor in der Klasse. Er sagte mir nachher, daß
mich die Mädchen noch einmal sprechen wollten.
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| Als ich
wieder in das Zimmer kam, fand ich
Gertrud Uhl aufgelöst in Tränen, eine andere mit
einem Glas Wasser vor ihr. Dabei war sie 3 Monate im Sommer
beurlaubt, erhielt kein Zeugnis, war in den Leistungen sehr schwach
und hatte kaum etwas besonders Freundliches erfahren. Nun kam
Erna Ewert vor,
u. mit einem seltsamen Gegenstand in
der Hand; sie wollte eine Ansprache halten, kam aber vor Tränen nur
zu einem abgerissenen Stammeln und überreichte mir einen sehr
geschmackvoll in Holzpappe gebrannten Papierkorb. Wie ich hörte,
hatten sie,
Helene Schulze,
Lucia Fischer u.
Charlotte Togotzes daran in der
Schule manchmal bis Abends 9 Uhr gearbeitet. Das alles rührte mich
sehr; denn es war so herzlich und natürlich.
Am Nachmittag war
der Abschiedskaffee. Eine reizende blühende Mädchenschar, lauter
junge Hausmütterchen. Ich saß fern von den Honoratioren mitten unter
meinen besten Schülerinnen. Nach dem Kaffee war Tanz, bei dem ich
spielte. Zum Abendbrot gab es Bowle, zu deren Bereitung ich
hinzugezogen wurde. Der
Direktor sprach sehr hübsch auf die Kinder; ich
hielt eine begeisterte Rede auf ihn als den modernen Ritter Georg im
Gewande des Idealisten. Die Sache verlief sehr
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| lustig und
harmonisch. Man steckte mir den Überzieher meuchlings voll Kuchen,
bepackte mich mit Blumen etc.
Am nächsten Vormittag besuchte
die Schule die Schiffbauausstellung, woran ich nicht teilnahm. Ich
bekam aber eine Karte mit dem Ersuchen, nachmittags zum letzten
Spielen im Friedrichshain zu erscheinen. Der
Empfang war befangen. Die Ursache zeigte sich bald: ich wurde um Rat
wegen eines zu gründenden Lesekränzchens gefragt. Dumm, wie immer,
merkte ich nichts, sondern gab einen objektiven Rat. Wir spielten
sehr nett zusammen; denn auch im Arrangieren solcher Sachen habe ich
mich geübt. Während die anderen Klassen unter [über der Zeile] in
einer Polonäse abzogen, kamen meine Freundinnen damit heraus, ob wir
nicht noch eine Tragödie (Meeres u. d. Liebe Wellen oder Hamlet)
zusammen lesen könnten. Ich versprach "wohlwollende Prüfung" u.
Antwort am nächsten Tage.
Am Mittwoch war Schlußfeier. 8
sollten das volle Zeugnis erhalten.
Charlotte Bock, eine graziöse, kindliche Seele und
Lisbeth Krause hatte ich aus
objektiven Gründen nicht retten können.
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| Die acht
schwarzgekleideten Gestalten nahmen vorn Platz; mich selbst nötigte
man auf den Ehrenplatz neben
Frau
Direktor. Zahlreiche Eltern hatten sich eingefunden. Die erste
Rede galt den abgehenden Schülerinnen, die sämtlich vollkommen
fassungslos waren.
Hedwig
Wolter sang zum Harmonium "So nimm denn meine Hände", mußte
aber vor innerer Bewegung in der letzten Zeile abbrechen. Während
diese Rede des
Direktors zu
einseitig auf das Gefühl hinarbeitete, hielt er dann mir eine schöne,
ehrenvolle und warme Rede, die in die Worte ausklang: "Edel sei der
Mensch etc." Nach einigen Gesängen war Schluß. Ich drückte den
Abgehenden einzeln die Hand und suchte sie zu trösten. Rührend war
mir die Dankbarkeit der Familie Schulze. Immer wieder kehrten Vater
u. Mutter zurück und sagten mir unter Tränen die herzlichsten Worte.
Die "
Leni" sagte schluchzend,
sie hätte mir noch eine Handarbeit gemacht; ob sie mir die geben
könnte. Sie brachte mir dann eine mit Birkenmoos sehr hübsch umklebte
Ansichtskarte v. d. Schule.
Im Konferenzzimmer wurde mir vom
Kollegium u.
Direktor noch ein
besonderer Abschied bereitet. Sie überreichten mir mit Widmung 3
wertvolle Bücher.
Meumann,
Vorles. über experimentelle Pädagogik, und
Barth, Erziehungslehre. Ich
antwortete bewegt
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| mit einigen aufrichtig empfundenen
Worten, die wohl nicht ohne Eindruck geblieben sind; denn ich sah in
den Augen auch der fernestehenden Damen Tränen. Es gehört zu den
Schmerzen dieses Tages, daß eine dieser Seelen ihre Tränen so bald
nicht überwinden wird. - Ich hatte vergessen zu erwähnen, daß mir das
gute alte
Fräulein Ströhmann,
die leider seit einiger Zeit krank ist, am Morgen des Tages einen
sehr warmen, herzlichen Abschiedsbrief gesandt hatte. -
Unten wartete die 2. Abteilung auf mich. Wie wunderbar spielt oft die Macht der Gemüter: Die
arme
Gertrud Uhl war immer noch völlig fassungslos;
ich glaubte am Druck ihrer Hand zu fühlen, daß sie sich nur mühsam noch aufrecht hielt.
Sie hat wohl diese drei Tage fast ununterbrochen geweint, so daß es den andren schon
auffiel. Der Abschied v.
Frida Herrmann u.
Käthe Müller war mir nicht leicht; auch den Wildfang
Gertrud Winter habe ich gern gehabt.
Gerda Lesser ließ am Nachmittag ihr Bild unverpackt in Briefmarkenformat
bei mir abgeben.
Sie werden begreifen,
daß mir am Nachmittag, als ich in herbstlicher Dämmerung denselben
Weg von
Sadowa nach
Ravenstein machte, den ich "mit der
mir anvertrauten Kinderschar, deren Herzen ich mir in hohem Maße
gewonnen habe" (Worte des Direktors) im Frühling gemacht hatte, -
daß mir da das Herz unendlich schwer u. traurig war. Aber ich bin ja
nicht geschieden. Der
Direktor,
den ich umso tiefer zu lieben gelernt habe, als ich ihn nur langsam
verstehen gelernt habe, bleibt mir nahe. Den Mädchen schrieb ich, daß
der Lesezirkel seinetwegen nicht eingerichtet werden könnte, daß ich
aber für Partien etc. (worüber später mehr) stets zu haben wäre.
Gewiß wird das so bald nicht einschlafen. Hat doch der Musenbund das
Direktorium und mich morgen noch zu einer Partie nach
Friedrichshagen eingeladen.
Soviel
wollte ich Ihnen in rasender Eile erzählen, da ich fürs erste
physisch außerstande bin, zu schreiben. So konnte ich auch
Hermanns Absatz noch nicht
lesen. Deshalb bat ich Sie neulich, mich zu entschuldigen. - Am 28.
X. macht
Freund Bock Hochzeit,
wobei ich Trauzeuge und Gast bin. - Sie erhalten mit der
signalisierten Sendung auch die Verse u. die Lieder v. d. letzten
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| Partie zur Ansicht. - Schade daß Sie noch so wenig Stunden
haben; aber schön, daß Sie diesen herrlichen Herbst nun genießen
können! Ich bin jeden Tag meditierend draußen, u. muß es sein.