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Heidelberg. 4. Mai 1908.
Lieber
Freund!
Entschuldigen Sie die Schrift, aber ich
soll viel im Freien sein, u. da möchte ich die stille Stunde im
Grünen gern mit Ihnen verplaudern. Wenn ich aber beichte, daß ich
wieder auf dem Friedhof bin, werde ich wohl doch gezankt werden? Es
ist aber ganz ungerechtfertigt, denn es kann nirgend schöner sein,
als in diesem stillen Garten, voller Blüten u. munterer Vogelstimmen,
überall dies entzückende, junge Grün. Ich möchte den Großstadtlärm
nicht eintauschen gegen den Gesang der Nachtigall, Finken u. Meisen,
Kuckuck u. Amsel, der hier von allen Seiten tönt. Es weckt mir
vielmehr den Wunsch, Sie auch einmal hier so führen zu können, wo es
so schön ist u. wo ich so gern allein bin.
Daß es Zeiten
giebt, wo mir der dauernde Aufenthalt an diesem Ort des Friedens
sehr
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| anschauenswert erscheint, hat ja mit der schönen
Außenseite, die mich hier umgibt, nichts zu tun. Ich habe die Zeit
der Mutlosigkeit einmal wieder hinter mir, so sehr ich es selbst
mißbillige, daß eine so verzweifelte Mutlosigkeit immer wieder Macht
über mich gewinnen kann, so sind solche Zeiten eben doch mehr als
düstere Einbildungen. Daß Sie mich in diesem einsamen, schmerzlichen
Kampf verstehen, ist mir Kraft u. Hülfe. Dann denk ich freilich auch
wieder, ich sollte über solche Sachen hinaus sein, aber es scheint
fast, als wenn jede Epoche des Lebens in neuer Form die alten Leiden
wieder mitbrächte u. als ob Leben eben nur in einem steten Überwinden
sich behaupten könne. Immer ringen wir aus diesem täglichen Getrübe
des Daseins heraus nach leitender Erkennntnis u. doch will der Weg
sich immer wieder verdunkeln.
Mag man noch so fest an den
idealen Gehalt des Menschenlebens glauben,
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| was hilft es,
wenn man so wenig davon in diesem realen Dasein zum Ausdruck bringen
kann?
Mit Freude hörte ich, daß Sie mit Zuversicht u. Gelingen
arbeiten. Wie gern hätte ich mir davon bei der Wanderung in
Rudolstadt erzählen lassen! Herzlichen Dank
für die beiden Karten. Wollen Sie mir nicht mal erklären, was Sie
eigentlich mit dieser Reise nach Jena
bezweckten? Sie beunruhigen mich mit allerlei Andeutungen, die ich
nicht verstehe.
Ja - reisen - Mit dem Juli am
Ammersee ists selbstverständlich nichts. Im Juli
kann ich nicht fort, u. außerdem wäre mir das keine Erholung. Ich
brauche Höhenluft, wenns etwas nützen soll. Übrigens werde ich dies
Jahr überhaupt nur nach
Cassel gehen. Darum -
nehmen Sie lieber den Umweg über
Heidelberg
in Ihr Programm
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| auf. Oder gehen Sie nicht doch vielleicht
mal an die See?
Was nun Pfingsten angeht, so könnte ich
freilich um diese Zeit einen Abstecher nach
Berlin wohl möglich machen. Ich habe schon länger
an diese Möglichkeit gedacht u.
meine Tante! in der
Knesebeckstraße hat mich dringend eingeladen.
Aber wenn dann der
Humboldt
"ins Feuer" soll, kann ichs wirklich nicht verantworten! Doch nun
antworten Sie mir bitte einmal ernstlich u. aufrichtig. Glauben Sie,
daß wir beide etwas von meinem Kommen haben würden? Können Sie es mit
Ihrer Arbeit vereinen, mir etwa 3-4 Tage zu opfern, die wir dann zu
Tagestouren verwenden würden, abgesehen von gelegentlichen kürzeren
Besuchen oder gemeinsamen Wegen? Ich denke, falls ich komme, 2 Wochen
zu bleiben, (wohl 6.-22.) u. muß natürlich dann
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| auch
allerlei Familie u. Kunst "erledigen". Es wäre mir aber das
Hauptanliegen, einige schöne Tage mit Ihnen zu verleben, soweit sich
das mit Ihren Arbeitsplänen vereinigen läßt. Selbstverständlich werde
ich darin keine unvernünftigen Ansprüche machen. Sie müssen wissen,
ob u. wie Sie es einrichten wollen.
Abends. Das Schreiben
draußen ging nur langsam; ich mußte immer wieder gucken u. lauschen.
Der Frühling ist nun mit einem male doch ganz überraschend gekommen
u. man sieht mit Staunen all die Schönheit. Inzwischen hatte ich nun
auch noch einen seltenen Kunstgenuß: die Tanzschule der
Duncan. Haben Sie diese Kinder
je gesehen? Das ist wirklich Musik in menschlicher Gestalt, diese
Harmonie der Bewegungen, diese naive frische Gestaltungsfreude, die
in diesem jugendlichen Körpern
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| zum Ausdruck kommt, ist
wirklich entzückend. Ein Reigen mit einem großen Schleiertuch, das
wie eine Wolke auf u. niederschwebend sich wie lebendig dem Tanz der
Mädchen einfügte, war ganz ergreifend schön.
- Jetzt sitze ich
in der stillen Nacht an meinem Schreibtisch u. durch das offene
Fenster kommt vom Geisberg her das Lied einer
Nachtigall bis zu mir. Das ist das erste Mal in den 10 Jahren die ich
nun schon hier bin. Denn am 8. Mai ist es genau 10 Jahre, seit ich
dauernd hierherkam. Welch lange Zeit! Wie vieles hat sich außen u.
innen geändert. Was ist nun von alledem mein, was habe ich dazu
getan, u. was wird mir bleiben? Was kann die Blüte dafür, die der
Wind in den Staub weht, daß sie nutzlos verdorren muß? Die Welt ist
so reich - u. so grausam.
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| Ob wohl der Schluß Ihrer
kleinen Reise doch erfrischend war? Hoffentlich haben Sie die Ihrigen
wohl angetroffen. Ich würde mich sehr freuen, an Pfingsten Ihre
lieben Eltern wieder zu sehen.- Sie haben mir nie gesagt, ob Sie die
schwarze Person ähnlich fanden? Ich schicke Ihnen hier noch einen
andern Abdruck von ihr- "große Ereignisse u. kleine Leute werfen
ihren Schatten voraus!"- welchen finden Sie besser? Wenn Sie wollen,
behalten Sie das, was Ihnen ähnlich scheint!
Aenne finde ich zum Glück wohler als
vor meiner Abreise. Sie ist sehr in Anspruch genommen von einer
merkwürdigen Mission. Sie muß für ein altes Fräulein, die aus guter
Familie, aber ganz am Rande mit ihren Mitteln u. außerdem geistig
nicht normal ist u. die nicht mehr
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| für sich einstehen
kann, ein Unterkommen suchen. Sie wird wohl am Ende nach
Illenau in die Irrenanstalt kommen, aber
einstweilen will sie nicht.
Morgen fange ich nun also die
Stunden in
Schwetzingen wieder an, die dann
mit den Sommerferien abschließen werden. Ich habe dies selbst
angeregt, weil ich es für richtig hielt. Die betreffende
Correspondenz interessiert Sie vielleicht, ebenso
Ada Thönes u. s. w. Kennen Sie
Weinel? Sind Ehrismanns nicht
unglaublich höflich?
Recht herzliche Grüße an Sie
u. Ihre Eltern. In treuer Freundschaft
Ihre
Käthe Hadlich.
[] Aenne trug mir noch extra Grüße
auf.