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Charlottenburg 2, Kantstr. 140.
Den 16. Juni
1909.
Liebe Freundin!
Diesmal
beantworte ich alles mit höchster Pünktlichkeit; was Sie also in
diesem Brief und der vorangesandten Karte nicht finden, haben Sie
auch nicht gefragt.
1) Mit
Ihrem Vetter hoffe ich morgen Nachmittag eine
Partie an den
Müggelsee zu machen. Schon vor
längerer Zeit schlug er einen Tag vor, an dem ich jedoch nicht
konnte. Seitdem hat es immer noch nicht passen wollen. Aber morgen
soll es nun werden. Es war mir sehr unangenehm, daß es nicht gleich
klappte. Aber ich bin selten so durch gesellige Verpflichtungen
okkupiert worden, als gerade in diesen Tagen.
2)
Scholz ist noch hier und hat
mit dem Besuch der englischen Geistlichen viel zu tun gehabt.
Sein Sohn macht am Sonnabend
den 19. den Licentiaten; bei der Promotion am 26. soll ich
opponieren.
Soviel ad Brief I. Denn
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| was die
Kirchenfeste betrifft, so hatte ich schonend verschwiegen, daß
Pfingsten kein Auferstehungsfest ist, und hatte mich damit begnügt,
in stiller Zustimmung zu Ihren lieben tröstenden Worten Mut zu
finden. -
3) ad Leibgedinge: dies bedeutet nur so viel, wie
Sie wissen, daß ich aus eignen Mitteln nicht reisen kann. Weil es mir
unangenehm ist, das tausendmal zu sagen, habe ich es umschrieben.
4) "Sommernachtstraum" gibt bei guter Stimmung ebenfalls
keinen Anlaß zu Mißverständnissen. Jedenfalls war mir, als ich den
Schulplan entwickelte, ganz so "als wenn ich --, als hätte ich -- ."
6) Irren Sie, daß
Nieschling
auch in
Persien wäre und ich "ihn dort habe".
Er ist hier und wir reden und denken von Ihnen echt deutsch. Was Sie
aber sonst von ihm sagen, ist richtig. Hätte er nur etwas mehr
schneller Entschließung.
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7) Die Nachrichten von den
Schwestern bitte ich mir zu schicken. Es interessiert mich
sehr.
Fräulein Ännchen sah ich neulich
Unter den Linden, als sie an mir vorbeigegangen
war.
8) Sollen Sie
Nieschling nicht beneiden um die 1. Vorlesung,
sondern mich bedauern, daß ich sie vor der Fakultät in verschlossenen
Räumen halten muß.
9)
Knauer geht es
scheinbar
besser. Man sieht aber jetzt den Auswurf mit Bedenken an. Wenn er nur
nicht auch noch schwindsüchtig wird! Für die Vertretungsstunden hat
mir höchst
Sie sehr
freundschaftlich die Hand geschüttelt.
Hier jagen sich jetzt die Ereignisse. Es ist übrigens schwül und
drückend, was meine Handschrift noch schlechter macht.
Frl. Dilthey schrieb gestern in
der Bahn an mich: Der Zug saust nach
Berlin,
Ihr Vater wünschte mich heute
11 Uhr zu sprechen. Ich war zur Stelle, und wir gingen über 1 Stunde
spazieren, wobei alle Fragen eingehend erwogen
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| wurden.
Sein persönliches Interesse ist um so rührender, als sachliche
Differenzen noch fortbestehen. Ich schildere Ihnen statt des
einzelnen nur die tatsächliche Situation, die sich jetzt ergeben hat.
Laut
gedruckter Einladung wird
morgen meine Sache in der Fakultät verhandelt.
Dilthey wird erklären, daß er
das Buch kennt und für möglichste Beschleunigung der
Antrittsvorlesung sorgen.
Über die Themata haben wir eingehend
gesprochen. Hier war sogar prinzipielle Einigkeit. Die Wahl fiel erst
auf Nr. 1 (Die Selbständigkeit der Pädagogik.) Es stellte sich dann
aber (zu meiner stillen Freude) heraus, daß er auch vor
Stumpf Angst hat. Er könnte in
der Diskussion mit seinen scharfen Definitionen eingreifen. Dies muß
vermieden werden. Deshalb soll 2. gewählt werden (Einfluß des
geschichtlichen Bewußtseins auf die Pädagogik.) Nicht freisprechen.
Das Gebiet möglicher Diskussion möglichst beschränken. Ebenso die
Zeit hierfür nach Möglichkeit einengen. (Das ist doch nett, nicht
wahr?)
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Mit dem
Humboldt ist er im Hauptpunkte (Bedeutung der
Humanitätsidee) nicht einverstanden. Darüber lange, schwere
Unterredung. Ich folgere, daß dies auch in s. Gutachten hervortreten
wird. Dies ein ungünstiges Moment. Den
Rousseau will er haben. Die Grundauffassung aber
teilt er auch hier nicht Es wundert mich, daß er bei alledem für
mich so warm bleibt.
Also: am 8., 15. oder 22. Juli wird die
Sache zur Entscheidung kommen. Sie haben mir versprochen, liebe
Freundin, mir dabei zu helfen. Ich komme jetzt nicht auf lange Bitten
oder Motivierungen zurück, sondern weiß, daß Sie mir vertrauen. Ich
muß mir einen Frack machen lassen, schon zur Opposition am 26.VI. bei
Scholz; weitere kleinere
Ausgaben werden sich häufen, ich kann keine Zeit verlieren, sie zu
umgehen. Deshalb bitte ich Sie, nicht zu warten, sondern Ihre Sendung
(mit Instruktion über das Verkaufsverfahren) am Freitag Nachmittag
eingeschrieben zur Post zu geben. Zunächst wird das ganz unauffällig
bleiben. Später muß
m. Vater[6]
| die Tatsache natürlich erfahren. Ich habe in den letzten
Tagen noch einträgliche kleine Sachen geschrieben, die aber natürlich
erst später honoriert werden. Von jetzt an aber muß ich Nervenkraft
sparen. Der Himmel weiß, wie sehr ich am Rande damit bin. - Übrigens
liest
Privatdoz.
Frischeisen-Köhler im Winter wahrscheinlich Pädagogik. Aber
sobald ich habilitiert bin, bin ich zum Verdienen freier, und Sie
werden nicht zweifeln, daß ich dann für eine schnelle Ordnung meiner
Verpflichtungen alles tun werde. Jetzt heißt
[über der Zeile] es, das sehr unhandliche Thema
schnell zu bearbeiten. Nach meinem Geschmack ist es wenig.
Ich
bin ein Kind, liebe Freundin, und werde es bleiben. Sie sehen, wie
ich in den Sorgen und Arbeiten jetzt drinstecke. Trotzdem war ich
gestern im
Friedrichshain zum Spiel. Mit 10
Getreuen fing ich an. Allmählich hatte ich wohl 60 von der 6.- 1.
Klasse und das ganze Hainpublikum als Zuschauer. 2 vom Musen
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|bund kamen vorüber und
grüßten
[über dem Gestrichenen] sprachen mich freundlich und
unbefangen an. Aber die zwei vom Seelenbund, die von neulich her
inkriminiert sind, gingen stolz an mir vorüber u. sahen mich nicht. -
Am Sonnabend hat mich der Musenbund nach
Lehnitz eingeladen. Ich würde sehr gern
noch einmal mitmachen, wenn die Zeit es mir gestattet. Diese
Abteilung war mir doch die liebste; sie trägt den Stengel meines
Geistes.
Schreiben Sie mir doch, wie es in
Heidelberg und
Frankfurt
geht. Haben Sie Interesse daran,
meinen
Verleger kennen zulernen, so will ich ihn bitten, Ihnen s.
Visite zu machen. Er kommt demnächst nach Heidelberg.
Hermann muß nun wieder
exercieren. Der Ärmste, bei der Hitze!! Unsere Naturen haben sich
vertauscht: ich vertrage jetzt weit weniger Wärme. Bisher allerdings
war hier noch nicht viel.
Für heute Schluß. Ich habe mein
Versprechen gehalten u. ganz offen geschrieben. So leicht ist es mir
übrigens doch nicht geworden.
Herzliche Grüße von
meinem Vater[8]
| und
mir. Am Sonntag war ich mit ihm in -
Pankow
u.
Schönhausen. Wir hatten vorher die Mutter
der über uns wohnenden Familie, eine gute Frau,
beer in
Weißensee beerdigt. Mein Vater wurde ganz
sentimental über die Veränderung
[über der Zeile] in
Pankow. Dabei sind wir alles gefahren, kaum gelaufen.
Mit herzlichem Dank für
alles
stets Ihr
Eduard.