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In der Eisenbahn
Berlin - Cassel,. 19. IV. 09.
Mein
lieber, lieber Bruder.
Noch bin ich ganz betäubt
von dem plötzlichen Abschied - es ist in solchen Stunden immer, als
wenn alles Empfinden tief verschüttet läge u. nur gleichgültige
Äußerungen treten in unser Bewußtsein. Aber da habe ich die schönen
Blumen die mich so freundlich grüßen - u. dann, ach mein lieber
Freund, dann etwas so unendlich Liebes u. Wertvolles, daß Ihnen Worte
meinen Dank nicht ausdrücken können. Warum
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| aber haben Sie
sich davon getrennt? Ich möchte doch so gern, daß Sie behalten, was
Ihnen teuer ist. Sie wissen, wie heilig mir diese Gabe ist - u. was
Sie mir dazu schreiben u. das kleine, so bedeutungsvolle Zettelchen.
Ich sitze hier allein auf dem Eckplatz am Fenster, von keinem fremden
Auge gestört u. betrachte wieder u. wieder diesen Gruß aus weiter
Ferne, der mir die Seele tief bewegt. Wie unendlich danke ich Ihnen
u.
Ihrem Herrn Vater für dies
Geschenk u. alles, was es mir sagt.
Grüßen Sie
Ihren Vater vielmals, ich
hoffe, Sie haben es schon getan, denn ich weiß nicht, ob ichs noch
ausdrücklich sagte.
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Werden diese letzten Tage Wert
u. neubelebende Kraft für Sie behalten? Das ist mein sehnlicher
Wunsch u. ich denke an all diese inhaltsreichen gemeinsamen Stunden
in Dankbarkeit u. stillem Frieden. Sie wissen, was der Wunsch meines
Lebens ist, u. Sie haben Recht, daß das Schicksal ihn noch über meine
Bitte hinaus erfüllt. Denn eine Schwester hat man wohl nicht nur für
eine kurze Epoche, sondern für immer als treue Gefährtin, mag sich
auch innen u. außen wandeln, was da will.
Dieser Wisch ist ja
kein Brief! Also, bitte, verzeihen Sie dies
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| schmutzige
Papier, das ich schon tagelang in der Handtasche trug. Es ist doch
immer noch lesbar u. kann Ihnen also meine Grüße bringen. Die Fahrt
war anfangs schrecklich, aber bald wurde das Coupee leerer u. nun ist
ja schon bald die Hälfte vorbei. Bitte schicken Sie mir nach
Heidelberg erst Nachricht, wenn ich meine
Abreise von
Cassel meldete. Sonst wird mirs
am Ende noch nachgeschickt. - Wenn es Ihnen nur nicht schadet, daß
Sie soviel Hetzerei rund um
Berlin mit mir
hatten! Ich hätte Ihnen so gern gestern abend noch gesagt, daß wir
wenigstens Absolution bekommen.
Mit innigen
Grüßen u. treuer schwesterlicher Liebe
Ihre
Käthe.