Heut sind es also sieben Jahre seit
unserm ersten gemeinsamen Weg über die Berge? Auch heut ist es
sonnig, aber kalt. Ich war allein am Neckar, u. die liebe,
wohlbekannte Gegend grüßte mich, u. alles hatte Bezug auf
uns! Ich kann doch nirgends gehen, daß mir
nicht eine Erinnerung begegnete. - Wenn ich allein bin, u. ich bin ja
so viel allein, dann sind meine Gedanken in
Ilmenau, u. das Herz ist mir so voll davon, daß ich
immer meine, man müßte mirs ansehen. Und es geht doch keinen etwas
an, selbst der
Aenne kann ich
doch nur Äußerlichkeiten erzählen, - das Erleben gehört nur uns
allein! Wie schade, daß Sie noch immer den
Hermersberger Hof nicht kennen. Er ist bei aller
ländlichen Einfachheit doch von dauerndem Reiz für mich. Und all die
Versuche, ihn im Bilde festzuhalten, sind doch sehr ungenügend. Die
kleine Fernaufnahme ist vom Aussichtsturm, etwa 20 Minuten vom Ort
entfernt. Sie sehen mitten drauf den kleinen Haufen Häuserchen, darum
die Felder u. sonst nur Wald u. Wiesen, blaue Ferne in endlosen
Berglinien nach allen Seiten. Es ist eine Robinsoninsel da oben, u.
wenn man sich geeignete Gesellschaft mitbringt, einfach eine
idyllische Waldeinsamkeit. Der Sandboden, die teilweise natürliche
Vegetation, die launischen Felsformen - alles gefällt mir. Das
Stückchen Natur, das ich Ihnen heut von dort schicke, ist mir
besonders ans Herz gewachsen, durch mancherlei, was ich da still
erlebte. "Humboldt-Felsen" haben wir sie genannt, weil wir im
vergangenen Jahr dort Ihren
Humboldt lasen. Und diesmal war ich dort im Frieden
einer klaren Nacht - um Frieden zu finden. Was ist so ein kleines
Lebewesen auf den großen Steinen, daß es sich so wichtig dünkt? Was
ist dies große endlose Leben ringsum, das uns geheimnisvoll u. dunkel
umgibt u. aus dem nur einzelne Lichtpunkte strahlen, uns den Weg zu
zeigen? Warum liegt es wie ein schweres, erdrückendes Verhängnis über
mir, da doch in meinem Herzen so klare, warme Sonne scheint? Aber ich
habe es versprochen, ich lasse mich nicht "unterkriegen", u. es ist
jetzt ein stiller Mut in mir, der nichts mehr fürchtet. Wie unendlich
dankbar bin ich für die guten Nachrichten, die Sie mir schickten. Nun
ist doch wenigstens eine gewisse Sicherheit gegeben, u. Sie fühlen
sich freier u. sicherer. Das Vierblättchen bürgt Ihnen für eine gute
Zukunft. Ich fand es mit diesem Gedanken als "Zeichen", das ich mir
wünschte. Wenn es nur mit der Gesundheit besser wäre. Ich habe das im
Voraus gefürchtet u. konnte doch nichts daran ändern. Ich wäre so
viel ruhiger gewesen, wenn ich noch hätte für Sie sorgen dürfen, bis
Sie eine wirklich tüchtige Kraft für die häusliche Arbeit gefunden
haben. Aber wie hätte das sich einrichten sollen? Es ging ja nicht. -
Kann denn nicht die
Frau
Endriat wieder kochen? Sind Sie auch mit dem Trinken
vorsichtig? Nehmen Sie nicht mal wieder Tamalbin? Das ist doch
heilend u. dabei harmlos.
Bitte. Die Idee,
in der Küche mit einem Vorhang eine Schlafstelle abzugrenzen, finde
ich entschieden das Beste. Da die Küche abends nicht mehr als
Durchgang benutzt zu werden braucht, ist es auch wirklich nicht
weiter störend für das Mädchen, da sie ja für ihre Sachen u. zum
Anziehen die Kammer hat. Wenn sie nur ordentlich kochen kann u.
überhaupt was versteht! Es wäre so angenehm, jemand zu haben, der
persönlich empfohlen ist. Denn die Möglichkeit zu veruntreuen ist
grenzenlos, wenn es eine recht versteht. - Aber daß Sie in dem
geheizten Wohnzimmer schlafen sollten, wäre mir für Ihre Gesundheit
gar nicht recht. Das kleine Schlafzimmer ist ja eng u. dunkel, aber
es kann den ganzen Tag lüften, das andre aber wird doch bis abends
bewohnt. Nach all der Engigkeit, in der man sich auf Reisen mit
seinen Sachen herumdrückt, finde ich, daß ich hier zu Haus mit Raum,
mit Luft, Licht u. Reinlichkeit sehr verwöhnt bin. Noch gibt es ja
keinen Kohlenstaub von der Heizerei wieder! - Von den Bekannten sind
viele noch verreist. Die wenigen, die ich sah, haben mich weiter
nicht ausgefragt, so daß ich ohne Schwierigkeit durchkam. Wenn es
also weiter so geht, bin ich ganz beruhigt, u. Sie sind es jetzt
auch, nicht wahr? Morgen vormittag kommt
Ella Grassi zu mir. Sie wissen
doch, der kleine Blaustrumpf aus Rom. Sie hat jetzt ihre sämtlichen
Staatsexamen mit 1 gemacht u. wollte nun an die Doktorarbeit! Da
zeigte sich seit einiger Zeit, daß die Pupille des einen Auges
unbeweglich weit offenbleibt. Der Arzt hält diese Lähmung für höchst
bedenklich; sie soll nicht lesen, nicht arbeiten, überhaupt das ganze
Studium aufgeben. Das ist ungefähr, als wenn man ihr das Atmen
verbieten wollte, denn sie lebt vollständig in diesen Ideen. Jetzt
wollte sie von
Eucken:
Geschichte der neueren Philosophie (Wie ich am Buch sehe, heißt es:
Lebensanschauungen großer Denker.) lesen u. soll doch nicht. Da habe
ich ihr angeboten, ihr täglich eine Stunde vorzulesen. Sie werden das
arme Mädel bedauern, daß sie das anhören soll. Aber ich denke, es ist
doch besser, als wenn sie ihren Augen schadet. - Wollen sehen, ob ich
nicht ein wenig dabei lernen kann. Sonst habe ich, seit ich hier bin,
außer ein wenig Zeitung, noch nichts gelesen. (Wer bringt Ihnen denn
jetzt die Morgenzeitung?!) Das Photographieren kostet greulich viel
Zeit, u. es kommt doch wenig Ersprießliches dabei heraus. Es ist halt
in erster Linie eine nette Erinnerung. Wie finden Sie denn die
Nagelschuh? Ich bin noch sehr viel müde, obgleich die Luft für
Heidelberger Verhältnisse sehr erträglich ist. Ich bin eben doch ein
recht kümmerliches Subjekt, wie Sie nun aus eigener Anschauung
wissen. Aber ich freue mich, daß es viel Arbeit gibt, das macht
frisch. Ich bin begierig, ob sich wieder Stunden finden werden. In
Mannheim fängt es nach den Ferien stramm
wieder an. Auf den Jungen freue ich mich. Wenn nur irgendjemand für
mich all die unangenehme Flickerei u. Näherei machen wollte, die sich
so im Laufe der Monate angesammelt hat.