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Heidelberg. 2. Dez. 1910.
Lieber
Freund.
Ich glaube zwar nicht, daß Sie diesmal
auf Nachricht warten, aber Sie denken doch vielleicht: "es ist
ordentlich von ihr, daß sie dennoch schreibt!" Und ich habe gern,
wenn Sie zufrieden sind, mein Verwöhnter.
Könnte ich nur etwas
beisteuern dazu, daß der Grundton Ihrer Stimmung durchschnittlich ein
etwas freudigerer wäre. Es quält mich, daß man zu allem, was ohnehin
in Ihrem Leben an Schwierigkeiten liegt, nun auch wieder fremde Sorge
gewälzt hat. Sie empfinden jede Verantwortung so tief u. gerade Ihr
warmes Mitgefühl ist es, was diese beklagenswerte
Mutter veranlaßt haben mag,
sich um Hülfe gerade an Sie zu wenden. Und
[2]
| niemand
bedenkt, wie viel ohnehin schon von Ihnen gefordert wird. Ich möchte
Sie herzlich bitten, im eignen Interesse die innere Verpflichtung für
diese armen Kinder nicht zu überspannen. Es ist ja ein Glück, daß die
Kinder bei freundlichen Verwandten unterkommen können u. nicht auch
noch getrennt zu werden brauchen, da sie so plötzlich elternlos
wurden. Schrecklich hart finde ich es für die Mutter, so das
Unabänderliche mit Gewißheit
vorauszusehen, da sie doch noch so nötig für die Ihren wäre. Und die
Mittel sind auch so gering! Denn was will das Kapital heißen zur
Erziehung von - eigentlich noch 3 Kindern. Denn vermutlich wird die
Älteste doch wohl irgend etwas erlernen müssen? Wie leid tut mir das
arme Mädchen, das sicherlich
noch mit großen Illusionen vor dem Leben stand, u. nun so Schweres
durchmachen muß. Die kleineren Geschwister werden
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| die
ganze Härte des Schicksals gewiß noch nicht so klar empfinden. Ich
glaube freilich nach dem letzten Brief, den Sie mich von ihr lesen
ließen, daß ich sie früher zu hoch eingeschätzt hatte. Denn da war
ein Ton von Unfeinheit, der mich sehr störte. - Aber wenn ich davon
absehe - was ja doch im Grunde nur ein unberechtigter Anspruch meiner
Phantasie war - so muß ich immer wieder daran denken, wie hier eine
junge, noch weiche Seele vom Schicksal tief verwundet ist u. ob sie
die Kraft haben wird, es zu tragen. Indem Sie diese Kraft zu wecken
suchen, werden Sie helfen. Ist das religiös? Ich meine doch, aller
Glaube an eine unzerstörbare Lebenskraft, an eine Welt, unabhängig
von der Realität - oder vielmehr
über ihr
ist Religion. - Sie werden freilich nicht mehr in der Form
kirchlicher Sprache zu trösten vermögen,
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| aber je mehr Sie
die eigene Überzeugung in diese Form zu kleiden vermögen, umso besser
werden Sie hier wohl verstanden werden. Es ist für uns ein leeres
Wort, daß Gottes Vatergüte auch das Schwere zu unserm Besten sendet,
u. doch wissen u. fühlen wir, wie der Schmerz verborgene Kräfte
auslöst u. wie wir mit dem Überwinden wachsen. Ist es notwendig,
dieses Walten in der Wirklichkeit einer göttlichen Persönlichkeit
zuzuschreiben, die die Geschicke lenkt, ist dieses göttliche Wirken
nicht vielmehr in uns u. mit uns gegeben? Aber wenn wir dieses
Wirkende nennen wollen, sagen wir Gott u. wenn wir es vorstellen, so
personifizieren wir es als Idee.
Ich las neulich von einer
wissenschaftlichen Theorie, die die Zeit als vierte Dimension des
Raumes auffaßt.
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| In einer ähnlichen Verknüpfung unsrer
Vorstellungen zur Einheit kann ich mir Gott denken, nicht als ein
Getrenntes, für sich Bestehendes, sondern als das rein Geistige, das
in allem Sichtbaren verborgen wirkt, das Zeit u. Raum erfüllt u. doch
nicht darin aufgeht. Es ist da, allenthalben; aber nur, wo es sich
selbst erkennt, reden wir von einer Offenbarung. Aber immer liegt in
der Gestaltung der Erkenntnis zur Vorstellung zugleich eine
Beschränkung, u. darum kann kein Gottesbegriff seine Offenbarung in
unserm Leben umfassend aussprechen. - Wenn wir am Begriff u. der
überlieferten Vorstellung haften u. doch einen klaren
Wirklichkeitssinn haben, so wird unsre Erfahrung uns in tiefe
Konflikte bringen. Darum können wir nur aus dem eignen Leben
Gewißheit erringen, umso reiner u. sicherer, je weniger wir nach
vorgefaßten u. ererbten Vorstellungen suchen. Daß der Kampf um diese
Wahrheit Ihnen gelinge, daran glaube ich. Warum klagen Sie um
verlorene Illusionen? Sie können in die Dumpfheit kindlicher
Vorstellung nicht zurück, aber es ist Irrtum, die Ungestörtheit
derselben für Reinheit zu nehmen, die nun verloren sei. Nur was sich
auch im Kanpfe bewährt hat, ist echt, u. es kann nicht verloren
gehen, was ewigen Wert hat. - Das sind auch alles so "unfertige"
Gedanken, wie Ihr lieber Brief sie in mir anregte. Ich kann heut
nicht mehr schreiben, weil es schon spät ist u. ich morgen nach
Mannheim muß. Was gäbe ich drum, könnten wir
einmal wieder reden statt zu schreiben! Aber deshalb nach
Greifswald zu fahren, kann ich mich nicht
entscheiden. Denn ich weiß, daß ein gehetztes Zusammensein bei meiner
eiligen Durchreise mehr Quälerei als Gewinn sein würde. So konnte
dieses Moment eher gegen als für meine Reise sprechen. Und auch sonst
lagen die Verhältnisse nun einmal so, daß ich trotz langem Schwanken
u. Bedenken nun doch bei dem Verzicht geblieben bin. Den Brief von
Lindau usw. - das
nächstemal.
Die
herzlichsten Grüße
von Deiner
Schwester.