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Charlottenburg, den 17.II.11.
Meine liebe
Schwester!
Vieles habe ich erduldet zu Wasser
und zu Lande: aber so was denn doch noch nicht, nämlich an 1 Tage 20
Dienstmädchen zu empfangen und zu Protokoll zu vernehmen. Ich habe
von menschlicher Physiognomie überhaupt nur noch 1
Durchschnittsvorstellung und bin fest überzeugt, daß es mir
unheimlich sein wird, falls es morgen nur 5mal klingeln sollte.
Übrigens bin ich dem Schicksal auch dafür dankbar: wer nur ein wenig
Menschenkenner
[über der Zeile] Beobachter ist, lernt daraus im
Fluge ein Stück Großstadt und Menschenleben kennen. Fast bin ich
versucht, Ihnen da einige Momentbilder zu zeichnen. Aber das
Tatsächliche wird Ihnen wichtiger sein.
Unsre "jetzige", deren große
Vorzüge ich jedenfalls dankbar anerkenne, geht schon
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| am
1.III. Sie muß einen Kursus vor der Hochzeit durchmachen. Ich war
bereit, ihr 2 Abende der Woche frei zugeben, aber 3 umsoweniger, als
der Kursus eigentlich 6 Tage stattfindet und wir dann am 1.IV
doppelte Unbequemlichkeiten haben. Trotz meiner starken Beschäftigung
gerade am Donnerstag habe ich alle Schritte sofort getan u. mich für
Annonce im Lokalanzeiger als das billigste entschieden. Daß es
wirksam war, sehen Sie aus der Zahl. Von der ältesten Witwe bis zur
feschen 19jährigen Wienerin waren alle Typen vertreten, mit Parfüm,
ohne Parfüm, mit Mund, ohne Mund. Und
Kant hätte sein allgemeingiltiges Sittengesetz nach dieser Erfahrung
aus mehr als einem Grunde widerrufen.
Das aktuelle Resultat ist gleich Null, aber hoffentlich doch nur für heute Abend. Jedenfalls hat
mein Vater eine im Auge (die während m.
Abwesenheit da war) und ich eine.
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| Mein Vater ist für die Alten; eine über
50jährige gewann sein Herz im Sturm. Ich stürbe an dieser Redegabe vor dem Umzug. Nun soll
morgen eine 38jährige mit sehr guten Zeugnissen u. langjährigen Stellungen noch einmal
kommen. Nous verrons.
Meine Kandidatin ist bei
Geheimrat v. Spalding in
Lichterfelde, hat wenig Zeugnisse, weil das
[am Rand zwischen den Zeilen] 27 J. Dienstbuch verloren, ist aber im Wesen
so überzeugend gutartig, daß ich diesem Gefühl traue. Die Zeugnisse sind
gut. Ich muß hinzufügen, daß in den Zügen mich etwas ganz von fern
an
meine Mutter erinnert, und daß ich dieser Nüance traue.
Sie sehen, es
fehlt nicht an Abwechslung. Wenn Sie hinzunehmen, daß auch
Dilthey sich wieder gemeldet
hat, daß der
Bruder von Frau Riehl
mich in einer Sache engagiert, die er ebenso leidenschaftlich
wie unverständlich auseinandersetzt, daß die Vorlesungen
abgeschlossen sein wollen und
Paulsens Aufsätze in den Druck sollen,
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so haben Sie ein Bild von meiner Existenz, die wirklich kein Centrum
mehr hat. Aber ich zwinge mich zur Ruhe, habe wegen Angegriffenheit
relativ mäßig gearbeitet u. werde auch die kl. Erkältung bald los
sein.
Es macht mir Gedanken, wie es Ihnen bei diesem
ungesunden Wetter geht. Ich tröste mich, daß man in
Heidelberg weniger hinaus muß u. nicht diesen
Temperaturwechsel hat, wie hier. Heute ist ein warmer Sturm, der
geradezu Influenza sät.
Riehl
hat schon fast 2 Wochen ausgesetzt.
Dr. Böhm ist krank u. das halbe Kollegium. Aber ich
stehe wie eine Eiche. Anfällig bin ich auch jetzt noch nicht, obwohl
neulich was in mir saß, das nun wohl raus ist. Bis zum 7.III lese
ich.
Es liegt wie ein Druck auf mir, daß Sie wieder über Ihr
Befinden zu klagen haben. Da Sie so schön Vernunft zu predigen
wissen, kann ich doch nicht annehmen, daß Sie für sich selbst
nicht vernünftig sind. Ich glaube, daß Sie
zu sehr Gedanken an sich nagen lassen. Und doch ist eigentlich nichts
unfruchtbarer als dies. Wissen Sie, was ich in diesem, nicht allzu
seltenen Falle
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| mache? Ich sage mir: Und wenn ich die ganze
Welt verlöre: ein Schatz bleibt mir - mein Kindchen in
Heidelberg. Das begleitet mich als die große
ruhige Harmonie in der bunten Melodie meines Lebens. Wenn wir so ganz
vom Äußeren los kämen! Im Grunde zweifeln wir doch nicht, daß in unsrer Gemeinschaft alles liegt, was
den Menschen stark macht: Religion und Liebe und Philosophie. Deshalb
stehe ich mit verstehender Überlegenheit über den Menschen und über
dem Dasein: Wo wäre jemand, der sich mit uns an Tiefe und Innigkeit
messen könnte? Haben Sie schon über das Rätsel nachgedacht, wo ich
die Kraft hernehme, so ganz ohne Freunde hier in allen Konflikten des
Daseins zu existieren? Ich brauche keine Aussprache, weil die Inseln
des Jahres mir genügen. Könnte doch dies Ihnen Sonnenschein sein! Sie
warten auf den Frühling. Ich bin diesmal ganz still; denn ich trage
ihn in mir, und vor Ostern wird's doch kein rechter Frühling hier.
Sie kommen doch?
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| Mir war einige Tage so, als wäre der
Professor unterwegs. Er wird es nicht sein; aber mancher Professor
könnte mich um meine vollen Kollegs beneiden. Und ich habe
Intelligenzen, nicht bloß Studenten! Nächstens schicke ich Ihnen
wieder einen kl. Stoß glänzender Recensionen.
Wenn Ihre
Auffassung und
K.s Auffassung
von der kindlichen Anschauung richtig wäre, so wäre das ja ein
grundstürzendes Resultat der modernen Psychologie. Das Kind finge
dann mit Begriffen an u. käme von da zu Anschauung! Lassen Sie das
Kind in Plastilin formen, so macht es keine Schemata, sondern
Gestalten, aber ungenau. Das Schema bedeutet ein doppeltes: 1) die
unvollkommene Überwindung einer technischen Schwierigkeit, über die
manche Völker
nie hinauskommen. 2) aber die
Andeutung der repraesentierenden Vorstellung, die den Begriff
begleitet, also gewisse Grundrichtungen der Anschauungstendenz,
Gerippe der werdenden,
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| intellektuell bestimmten
Anschauung.
Wissen Sie wer das ist?
<Zeichnung: zentriert. Laufendes
Strichmännchen im Profil auf gestrichelten
Boden>
Das ist "Fritz Strichmann" aus
dem Werner Siemensrealgymnasium. Wir können Fritz Strichmann auch
anziehen; dann sieht er so aus:
<Zeichnung: zentriert. Laufendes, kräftiger
gemaltes Strichmännchen im Profil auf durchgezogenem Boden>
Glauben Sie nun, weil mir das so
schlecht gelingt, ich hätte kein besseres Bild von Fritz Strichmann?
- Darin ist offenbar etwas Feines u. Richtiges entdeckt. Ebenso
genial sind die Friese von
Gertrud
Kaspari. Das entspricht
kindlicher Auffassungsart. Und den Kunstwart, 2. Januarheft, müssen
Sie sich ansehen.
Oberländers
"Biß in die Citrone" ist der Lichtblick dieser Tage gewesen. Aber wir
müssen darüber reden. Denn die Feder
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| schreibt miserabel,
und ich noch miserabler.
Darum besser Schluß.
Bitte schreiben Sie mir bald über Cassel.
Herzliche Grüße von Stadt zu Stadt
Dein treuer
Bruder
Eduard.
Angenommen ich wählte unter den
Bewerberinnen nicht nach dem Nutzen! Wie viel echter Wert und tiefe
Not mag sich darunter verbergen. Aber das Leben geht darüber hin.
Wüden Sie es billigen können, wenn ich nach
diesem Gesichtspunkt ginge? Und ist es zu verantworten, wenn man nach
einem
andern geht??? Unsere Welt ist
zweideutig; sie will etwas werden und kann es nicht.