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Leipzig, den 18. Dezember 1911.
Liebe
Schwester!
Gestern habe ich Weihnachten mit
Ihnen gefeiert, und es war sehr weihevoll. Alle meine guten Geister
waren um mich: so waren wir zu dreien, und aus dem Bild schaut etwas
auf mich herab, was verwandt ist dem deutschen Idealismus in mir.
Vielleicht haben Sie mir nie eine so tiefe Weihnachtsfreude bereitet
wie diesmal: Freude ist nicht das rechte Wort: es war mir, als wenn
ein halb Besessenes und lange Vermißtes wieder mein eigen würde. Es
liegt auch darin eine Symbolik: Erst jetzt kann ich dem Bilde
meiner Mutter in mir die rechte
Fassung geben, da ich weiß, daß wir alle nicht umsonst gekämpft und
gelitten haben. Es ist schön, daß das äußere Schicksal mich
gerechtfertigt hat;
denn
[über der Zeile] aber wäre es minder wahr gewesen,
wenn dies
nicht oder
noch nicht eingetreten wäre? Jedenfalls sehe
ich nun jenseits von Wolken
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| und Nächten jenen blonden Kopf
wieder auftauchen, der ähnlich sein
muß,
weil er mir so ähnlich ist. Ich wußte, daß
Sie dies Bild erst vollenden mußten. Oft wundre
ich mich, daß Sie und meine Mutter
zwei
Wesen sind. Ich werde das Bild nicht mit nach
Berlin nehmen: es soll hier mein Schutzgott sein
und mein persönlichstes Eigentum.
Abends, nachdem ich von
Connewitz (mit
Salow) zurückgekehrt war und ich allein zu Hause
war, habe ich den Lichterkranz angezündet und Ihrer gedacht. Was
haben Sie wieder alles hineingepackt in diesen Karton! Und wie arm
stehe ich schon rein an Gedanken, geschweige an Geschenken für
Weihnachten vor Ihnen! Einen Tag kann ich hier die Pension
abbestellen, ehe ich die Viktualien verzehrt hat. Auch mit Happen hat man nicht geknapst. Die
Krawatte kommt sehr zur rechten Zeit, gefällt mir glänzend. Glänzend
war auch das Papier, in dem ich den Puff hierher gebracht hatte
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| von einem Fett, das ich sonst an mir nicht bemerke.
Hoffentlich vergesse ich den alten nicht mitzubringen in dem
kommenden Trubel. Mit dem Bleistift werde ich Dissertationen
korrigieren, u. der Siegellack in beiderlei Gestalt hilft geradezu
einem schreienden Bedürfnis ab. Aber ich weiß nicht, wo
anfangen, wo aufhören, und wenn ich gar noch
denken wollte - käme ich heute nicht in die Sitzung, in die ich
gleich muß. Es ist nämlich jetzt über alle Begriffe toll. Bis
Donnerstag Mitternacht ist nicht
eine
Minute frei. Ich werde vielleicht Freitag noch hierbleiben müssen, um
nicht zu sehr zu hetzen; denn vorher komme ich nicht 1 Moment zu
meinen Privatsachen, und das bedrückt mich heute schon, daß meine kl.
Weihnachtssendung zu ihrer Unscheinbarkeit auch noch so spät kommt.
Aber es ist physische Gewalt, u. ich hoffe nur, alles zu schaffen.
Heute morgen hatte ich die 1. Probelektion u. d. 1. mündliche Examen.
Donnerstag lese ich noch u. Abends Examen.
Beiliegender Brief
hat mich gestern sehr aus dem Gleichgewicht gebracht.
Erna ist mein Patchen. Ich
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| habe nicht
anders gekonnt als 30 M schicken, die ich natürlich nie wiedersehe.
Auch will ich versuchen, für
m.
Onkel eine Stellung zu vermitteln. Aber m. Hoffnungen sind
gering! Vorläufig kann
ich ja anderen noch
nicht helfen. Aber diese 30 M. mußte ich schicken.*)
[Fuß] *) Ich verschiebe dafür einige geplante
Anschaffungen. Denn
einzeln
betrachtet verdiene ich hier 30 M unter Umständen wie nichts -
für ¾ Std. Konversation. Aber ich sehe voraus, daß jetzt in Ch. die
Thaler wie ein sanfter Bach fließen werden.
Ich muß schließen.
Sagen Sie doch in
Heidelberg m. Dank. Und vor
allem grüßen Sie die
Tante, u.
schreiben Sie mir, wie Sie ankamen u. wie Sie sie fanden. Hoffentlich
gut. Der Winter ist ja so mild diesmal!!
Es gäbe noch
mancherlei. Aber das lasse ich bis zum 26. Auf m. Karte bekomme ich
wohl noch Nachricht. Vielen innigen Dank nochmals und herzlichste
Grüße.
Dein Bruder.
[re. Rand] In Ch. blüht mir möglicherweise die Erholung, im
Restaurant zu essen.[Kopf] Gestern 1/2 12-1 8
Gegenbesuche empfangen.