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Leipzig, den 2. Juli 1912. nach Feierabend.
Liebe Freundin!
Meine beiden Karten aus
der Bahn und also meinen Dank werden Sie erhalten haben. Sie haben
mir wie stets eine große Freude bereitet. Aber ich müßte lügen, wenn
ich nicht sagen sollte, daß es mich innerlich noch mehr bereichert
hätte, wenn ich aus Ihren Zeilen eine größere Freiheit der Seele
herausgelesen hätte. Ich habe dafür, wie es ja selbstverständlich
ist, ein unmittelbares Gefühl, und dieses sagt mir schon lange, daß
Sie mir - wie der Arzt sagt - nicht gefallen. Mir geht's wie den
Cyklopen vor der Höhle: Wenn
Niemand Sie
tötet mit List oder Gewalt, dann ist schwer zu helfen. Ich weiß nur
zu gut, wie schwer der Kampf mit einem ungünstigen physischen
Befinden ist u. wie wenig da alles Zureden nützt. Aber das möchte ich
doch betonen,
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| daß es Gottlob Niemand ist, der Sie mit List
oder Gewalt tötet. Wenn die Nerven nicht wären, wäre da eigentlich
eine Veranlassung zum Gedrücktsein? Denn nehmen Sie an, daß das
Erwartete geschähe, und es muß ja einmal geschehen, würden wir dann
nicht gegen die
realen Mächte gemeinsam
ankämpfen? Ich möchte Sie bitten, für einen solchen Fall keine
Entscheidung zu treffen, ohne mich zu befragen. Ich habe ein Recht
dazu. Ich würde dann, wie Sie so oft, in den Verwicklungen persönlich
auftreten, und es müßte doch seltsam sein, wenn da nicht in ruhiger
Aussprache zu dreien ein Resultat zu erzielen wäre, das Ihnen eine
Lebensmöglichkeit nach Ihrem Sinne sichert.
O, mein Geliebtes,
warum immer so dunkel und dumpf? Das ist mir, als könnte ich
garnichts geben, wo Du alles gabst. Haben wir denn wirklich mit
unsern Kämpfen und Leiden nur erreicht, daß wir uns vor jeder neuen
Zukunft
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| fürchten? Haben wir garkeinen Standpunkt, garkein
Vertrauen zum Leben gewonnen? Das ist meine stille Mißbilligung, weil
es doch auch eine stille Anklage ist gegen
mich. Es gibt gewiß Situationen der vollen
Ratlosigkeit. Aber man sollte sie herankommen lassen. Haben Sie
bisher den Sonnenschein aus Ihrem ausgeteilt, sollte ich das nun
garnicht können? Immer noch diese
Hölderlinsche Angst vor dem Schicksal? Das würde
ich verstehen bei dem, der noch nichts erduldet hat u. vor der ersten
Berührung sich fürchtet. Aber es muß doch nach so viel Kämpfen eine
innere Macht in uns gewachsen sein. Wollen Sie die immer noch nicht
zeigen? Ich bitte Sie so oft darum, einmal
Sie
selbst zu sein. Sie können es für andre, Sie müssen es auch für
sich selbst können.
Es ist das immer noch ein Punkt, mit dem
wir nicht im klaren sind, und ich hoffe alles von den Sommertagen,
von denen Sie aber reden,
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| wie von einem Unvermeidlichen,
das man passiv hinnimmt. Lassen Sie doch
Freudenstadt teuer sein. Teurer als
Churwalden ist es sicher nicht, und wenn es
dafür seinen Namen an uns bewährt, so können wir sagen, daß wir
zugleich die Torheit des vorigen Sommers, nämlich eine unzweckmäßige
Sparsamkeit, gutmachen. Ich hoffe alles von dieser Zeit. Davon
nachher noch mehr.
Selten bin ich so beglückt und bereichert
von
Berlin gekommen wie diesmal. Ich fand
meinen Vater recht gesund und
zufrieden; alte Gegensätze sind verklungen, mein Recht auf Dasein ist
gesichert, ich habe die Fäden in der Hand, u. der Geburtstagsbrief
meines Vaters ist der Beweis, daß hier ein Sieg errungen ist, der
auch die Vergangenheit erklärt. Am 28. war eine große Tafel nach
unsern Begriffen:
Mein Onkel
mit
s. Wirtschafterin,
Nieschling,
Ludwig, das Sumpfhuhn, der
Registrator, u.
Klara Runge, alle so nett und
erfreulich, daß mir in diesem Kreise wohl war. Besonders Nieschling
entfaltete seine alte Grazie.
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Am Sonnabend war ich
erst auf den Bibliotheken u. der Universität, die mich vielleicht
doch einmal wiedersehen. Nachmittags an der Havel; die Zusammenkunft
funktionierte erst nicht ganz; dann waren wir, wie schon öfter, 13.
Die Unterhaltung war mir wohltuend und vertraulich. Wir fuhren von
Schildhorn bis
Wannsee mit dem
Dampfer!!
El. Lüpke,
El.
Borries,
Frl. Tuchel,
Frl. Thümmel,
Greta Schäfer,
Charl. Koldsen,
Hertha Ewers,
Else Jacobus,
Luise Hennicke,
Erna Stolzenheim,
Dora Jürgens,
Hedwig Jonatat. Man muß nicht
gewöhnt sein, mich so ruhig und gleichmäßig zu sehen. Denn Frl.
Tuchel beschwor mich in einem Brandbrief, mich zu schonen, da ich das
Semester nicht aushalten würde. Sie glaubte Gedrücktheit selbst in
meinen Scherzworten zu finden. Es war aber nur Sicherheit und
Befriedigung, die mich immer still machen. Der Abend war mir eine
wirkliche Freude.
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Die Fahrt nach
Kösen in dem von Juden überfüllten Zuge war
entsetzlich. Aber das Zusammensein der etwa 150 Professoren sehr
hübsch. Mit
Bauch,
Leitzmann,
Menzer war ich besonders
zusammen. Auf der Rückfahrt geriet ich mit den alten Geheimräten,
besonders mit
Seeliger, dem
Schwager
Volkelts, in eine fast
kindliche Heiterkeit. Zum Schluß war ich noch mit
Ehrenberg zusammen, Geh.
Justizrat, Schwiegersohn
R. v.
Jherings, dessen Familie ich besonders nähergetreten bin.
Wirklich erfrischt kam ich zurück. Nun hat
die stramme Arbeit wieder begonnen, u. sie hat trotz aller Freude
doch den einen Mangel, daß sie eben alles Menschliche, alle freie,
innere Entwicklung u. Ideenentfaltung ausschließt. Hingegen bräuchte
ich ein Gegengewicht, u. das muß ich im Sommer finden. Ich
muß unabhängig vom Druck der früheren Nöte,
mich weiter entfalten u. Ideen zur Reife
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| bringen, die eben
doch noch im Schulleben wurzeln, nicht in der Universität.
Soviel ich nachgedacht habe, scheint mir doch nur Freudenstadt oder Berchtesgaden in Betracht zu kommen. Oder etwa die
See? Aber wenn sie zugleich Spaziergänge bieten soll, bliebe nur
Rügen, u. das ist teuer u. voll. Ich kenne
Freudenstadt u. s. billige Seite. Wir wollen aber nicht übereilt
wählen, u. lieber 2 Tage im Hôtel wohnen, damit wir finden, was wir
brauchen.
Damit Schluß für heute; denn die Feder kratzt, es
ist spät, u. die Seele bringt nichts Kluges mehr heraus.
3. VII. 12. nachm.
Heute war
Se. Excellenz Wach bei mir.
Trotzdem ist mir noch so schläfrig vom Mittagsschlaf, daß ich
garnicht zu mir kommen kann. Aber es ist jetzt eine angenehme kühle
Luft; der Sommer wartet anscheinend bis zum August. Ich hätte dem
Gestrigen noch tausenderlei hinzu
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|zu fügen,
u. so aber der Mittwoch ist immer
dreifach arbeitsreich, u. so will ich nur noch bemerken, daß ich
wahrscheinlich noch Ende dieser Woche 500 M an Sie schicken werde,
unsern gemeinsamen Reisefonds, den Sie bitte so anlegen müssen, daß
wir ihn Anfang August haben können. Ich bringe dann nichts mit. Die
Finanzüberlegungen sind etwas schwierig, wenn man an so vielerlei
denken muß.
Beiliegend eine
Auswahl
meiner Geburtstagsbriefe, die ich gelegentlich zurückerbitte.
[unter der Zeile] Hermanns noch vor dem 12.VII. Ihre Rosen
stehen noch vor mir, von den Schloßbiskuits nähre ich mich zum
Kaffee.
Dem Vorstand sagen Sie
wohl für s. liebenswürdiges Gedenken m. Dank und alles Gute. Am 7.
ist der Geburtstag, nicht wahr? Ebenso
der Tante m. Dank. Ich schreibe, kann aber nicht
allen zugleich.
Und nun alles Gute und innigen
Dank
in Treue und Liebe
Dein
Eduard.