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Charlottenburg 4, Pestalozzi-Str. 9a.
Den 30.
Dezember 1912.
Liebe Schwester!
Wiederum gehen wir in ein neues Jahr hinüber, und mannigfache
Gedanken werden lebendig an solcher Grenze der Zeiten, aus der man im
übrigen keinen Anlaß zum Prophezeien nehmen soll. Nur in lieben
Gedanken und treuen Wünschen soll man sich vereinigen, und auch diese
Wünsche gelten nicht dem äußren Glück, das nicht in unsrer Macht
steht, sondern der inneren Kraft und der geistigen Überlegenheit über
das Dunkel. Möge
Ihnen, möge
uns das neue Jahr in diesem Sinne licht
sein; denn daß es für die äußere Gestaltung der Dinge
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nicht friedlich sein wird, schon im politischen Sinne, - das läßt
sich voraussagen, ohne aus dem Kaffeesatz zu weissagen. Aber es soll
uns auf unsern Posten finden.
Die letzten Tage habe ich in
einiger Unruhe geschwebt, nicht sowohl um mich, als zunächst um Amt
und Arbeit. Ich hatte Blinddarmbefürchtungen, nicht Schmerzen, aber
rechtsseitige unmotivierte Empfindungen.
Benary hat vor 10 Minuten
erklärt, daß nichts zu konstatieren sei. In der Tat war Appetit
bisher gut und Verdauung wie sonst, aber die Nervosität warf sich
wohl auf diesen Teil. Ich dachte: biegen oder brechen: bei der
gestrigen Tagestour mit den Böhminnen sollte sich herausstellen was
daran wäre. Bei recht schönem Wetter sind wir 6 Stunden gelaufen,
ohne daß ich eine Vermehrung der Empfindungen
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| bemerkte, im
Gegenteil, ich vergaß sie ganz und war nach Kräften lustig. Als ich
aber Abends in Bett ging, bekam ich am ganzen Körper ein Schütteln,
das ich mit keiner Willensanstrengung beseitigen konnte. Fieber
schien es mir nicht zu sein, es war nur ein nervöser Ausbruch, und -
offen gesagt -
Angst vor der Eventualität,
die ja mitten im Semester für
alle
Beteiligten schrecklich wäre. Durch langsames Pulszählen brachte ich
mich zur Ruhe, u. schlief dann ausgezeichnet, morgens 36,5. Ich
glaube selbst, daß die Empfindungen mehr nervöser oder muskulöser Art
sind. Besonders auch um unsres Planes willen ist mir das lieb.
Was Ihren lieben Brief betrifft, so beruht
1) die
Verstimmung auf Nervosität Ihrerseits, d. h. Sie lesen in einen
Scherz das Gegenteil hinein.
2) Die Hast kommt indirekt auf
Ihr Conto.
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| Sie haben nämlich in früheren Jahren immer am
selben Tage Antwort gewünscht. Ich habe daher am 25. geschrieben,
obwohl ich an diesem Tage weder Stimmung noch Zeit hatte. Und das war
dann am Text zu merken. Auch jetzt muß ich noch sehr fleißig sein,
wenn ich bis zum 3.I. hier fertig werden soll.
Der
lieben Tante bitte ich vielmals
für Ihre freundlichen Grüße zu danken und besonders auch dafür, daß
Sie mich wieder so gütig aufnehmen will (Sie tragen die
Verantwortung, ob es für die Tante jetzt paßt u. sie
nicht anstrengt: sonst logiere ich die 2
Nächte auch gern anderwärts, ja?) Zu Neujahr schicke ich ihr nur eine
gedruckte Karte, die Sie ihr
vielleicht in diesem Sinne interpretieren. Mündlich hole ich's dann
nach.
Der
Bruder v.
M. Mauderer, der an
Kehlkopfschwindsucht litt, hat sich die Kehle durchgeschnitten.
(Unter uns!)
Ich lasse eine ganze Reihe von Dingen unerwähnt,
da ich ja in wenigen Tagen bei Ihnen zu sein hoffe. Und zwar komme
ich, wenn es geht, schon um <li.
Rand> 2 Uhr 50. Vorher schreibe ich nur, wenn etwas
vorliegt. Herzliche Grüße Ihnen beiden <Kopf> und einen schönen, sorglosen
Jahresanfang! in treuer Liebe Dein Eduard.
[li. Rand] Am 6.I. um 2 Uhr 44 müssen wir fort!!