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Ostersonnabend 1915 spät.
Meine einzige
und innig geliebte Freundin!
Wegen der
verspäteten Antwort glaube ich durch äußere Umstände gerechtfertigt
zu sein. Auch wenn Zeit gewesen wäre, hätte ich mich telegraphisch
garnicht ausdrücken können. Und überhaupt ist Eile in diesem Fall
weder nötig noch segensreich, sondern im Gegenteil eine innere
Reifung die, wie im August, bei mir viel langsamer, diesmal noch
unendlich viel langsamer gehen muß als bei Dir.
Gewiß ist ja
eine briefliche Aussprache sehr schwer, aber nur aus Gründen, die
auch bei einer mündlichen obwalten würden. Denn ich fürchte bei jeder
Wahl des Wortes, umzart zu berühren, was ich doch nur mit frommer
Scheu besitze und betrachte. Die ganze Heiligkeit unsrer Beziehungen
ist in mir gegenwärtig, wenn ich trotzdem versuche, mit der
Klarheit,
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| die ich heute haben kann, folgendes
auszusprechen.
Mein geistiges und seelisches Leben hat in Dir
seine Erfüllung gefunden. Ich habe nach dieser Richtung das Tiefste
empfangen, ich habe das Tiefste gegeben. Was das zwischen uns ist,
das wird kein Auge je sehen und verstehen. Aber auch die Geschichte,
wenn sie je von mir Notiz nehmen sollte, wird sagen müssen, daß das
Beste in mir Dein Werk war. Ein Mensch, der dies empfindet, konnte
jetzt nicht nach
Cassel kommen, weil
dort im Moment vielleicht diese Wahrheit
nicht ganz so stark war, wie sie ist, wenn wir ganz fern von Stürmen
sind. Ich gehe meinen Lebensweg nicht blind. Ich muß Dich hier an ein
Wort erinnern, daß ich mit vollem Bewußtsein
schon 1906 aussprach, an einer Stelle, die durch eine fatale
Nebenbeziehung Dir nicht lieb werden konnte. Diese Nebenbeziehung
hatte und hat aber nichts mit meinem Leben zu tun. Deshalb laß Dich
lieber an Iphigenie erinnern und wie Orest zu ihr, d. h.
Frau von Stein stand, obwohl
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| Du reiner, edler und tiefer bist als diese Frau und alles
weitere deshalb wieder dumme Nebenbeziehungen enthält.
Es wird
mir schwer, von hier auf etwas andres überzugehen. Aber es muß wohl
sein. Vorher laß mich noch
meiner
Mutter gedenken, die Dich kannte und liebte.
S. ist in mein Leben getreten als ein
Kind. Ich habe Dir alles so gesagt, wie es verlief. Ob Dein Bild
davon ganz deutlich werden konnte, ist ja fraglich. Du kennst meine
Liebe zu Kindern. Du hast selbst an der Neigung teilgenommen, die ich
zu der Schar meiner Schülerinnen hatte. - Sie konnte aber, auch wenn
andre Schicksale gekommen wären, in der geistigen Berührung mit mir
nicht Kind bleiben. Sie wuchs in den ersten Tagen, zu meiner
tragischen Verwicklung, bis zu einen Standplatz, der sie erst für
mich vorhanden macht. Es ist in ihr die
Kraft zu
allem was ich will. Von hier an beginnt meine Schuld. Als
ich am 5. März nach jener schrecklich tragischen Szene 2 Minuten aus
dem Zimmer ging und
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| dann wiederkam, fand ich sie trostlos
weinend, wie ich nie einen Menschen sah, an meinem Fenster. Da faßte
mich das Mitleid, das in mir so stark ist, und ich habe eine Woche
lang Mitleid geübt. Sie konnte mir ja noch nichts geben, sie konnte
nur empfangen. Und es
[über der zeile] ist in ihr
alles so einfach: "Hier hast Du meine ganze Liebe, ich habe weiter
nichts zu geben."
Von jetzt an muß ich von mir reden.
Unterschätze nicht die Gefahr, die im Mitleid liegt! Die realen
Schicksale haben gewollt, daß ich als fühlender Mensch nur immer mehr
davon geben mußte. Und je mehr ich gab, um so mehr reifte sie. Jeder
Brief sagt ihr von neuem: Hier ist die Grenze, an sie darfst Du nicht
heran. Und sie war zufrieden mit dieser Grenze. Aber wann hätten
weibliche Seelen ohne Erfahrung schwerer Kämpfe je ein volles
Bewußtsein von der Schwere dieser Grenze gehabt?
Ich stehe
nicht zum ersten Mal vor solchen Erlebnissen. Du kennst sie ja alle.
Gute, warme Freundschaften von bleibenden echten Gehalt sind daraus
gefolgt. Nur eine habe ich im ersten Anlauf schroff von mir
gestoßen.
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Was ist das Besondere an diesem Fall? Der
Krieg zunächst. Sodann die große Gefahr einer absoluten Folgsamkeit.
Darf ich noch weiter frei sprechen? Er wird immer schwerer, ich finde
das rechte Wort nicht mehr, sondern nur das Herbe: So wie
heute alles liegt, ist da - ich lege dieses
Wort vertrauensvoll an Deinen Busen - die Gefahr von etwas
Morganatischem.
Aber es muß frei heraus: Zwei Wege gibt es für
mich: entweder ist meine Bestimmung
rein
geistig; dann habe ich, was der Mensch durch höchste
Seelengemeinschaft besitzen soll. So war es meine Vorstellung, ehe
die Ereignisse etwas anders hinein
brachten. Oder es soll in mein Leben etwas
hineintreten, was die Größten meiner Bestimmung nicht gehabt haben.
Etwas, das täglich den Kaffeetisch deckt. Das könnte auch etwas
Liebes, Treues und Ganzes sein.
Aber nicht mehr
mein entscheidendes Schicksal; das habe ich nicht mehr zu
vergeben. Keine Maria,
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| wenn sie herabstiege, könnte das
heut mehr bewirken. Das steht ganz über Menschenwollen. Das liegt
einfach im falschen Lebenssinn.
Genug! Ich trage die
Verantwortung für drei Menschenschicksale. Du fühlst, es ist mir
damit viel auferlegt. Aber es steht garnicht in Deiner Macht, mir das
abzunehmen. Ja, in Dir liegt sogar, weil Du die edelste unter den
Dreien bist, die größte Gefahr einer zu himmlischen Lösung.
Als
armer Mensch leide ich darunter. Als Gestalter und als Gläubiger
gegenüber dem Lebenssinn bin ich gewiß, daß ich das Echte finden
werde, was alles in seinen wahren
Wert unberührt läßt.
Aber nicht heut. Vielleicht noch nicht in Monaten. Hier muß die
Vorsehung walten. Und ich bitte Dich nur, an dieser Vorsehung
teilzunehmen, anders als Du denkst, d. h. nicht durch ein Opfer - ich
liebe das Opfern nicht, weil es dem wahren vollen Sinn des Lebens
nicht gerecht
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| wird, sondern durch Bewahrung meines
besten Selbst.
Ich schließe für heut
und fühle mich Dir näher als je.
Ostersonntag Abend.
Ich fahre in dieser
schwierigen Analyse fort, obwohl die schlechte Beleuchtung
abendliches Schreiben auf die Dauer sehr erschwert.
Indem ich
noch einmal lese und mich prüfe, ob alles ganz wahr und rein gesagt
ist, finde ich, daß "bloßes Mitleid" die Sache nicht mehr zutreffend
ausdrückt. Es ist da auch eine Affinität zu gewissen Neigungen in
mir: nämlich Mut, ganz klare sichere Kürze in Sachen, die uns
verwickelt scheinen, und ein grenzenloses Vertrauen in mich verbunden
mit
jedem Opferwillen. Es liegt im
Gang der Dinge, daß sich
Achtung im vollen
Sinn erst einstellte bei mir, weil ja alles so verkehrt herum anfing.
Und doch gehörte auch das wieder zu ihrer Natur -
Hofmann die Zweite, nur ohne
alle innere Komplikation. Nun habe ich
sie genug seziert. Sie mag es mir verzeihen. Meine
Art, Menschen zu sehen ist nie ohne Liebe, auch wenn ich sie
analysiere.
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Deine lieben Frühlingsblümchen kamen
leider erst Sonnabend etwas verdurstet hier an. Sie haben sich aber
sehr gut erholt und taten mir doppelt wohl, weil ich ihre Sprache
verstand.
Es ist weiß Gott ein Opfer, zunächst an m.
Wissenschaft, wenn ich auf
Cassel verzichtete
und die einsamen Ostertage hier vorzog. Gestern war ich allein in
Knauthain, unterwegs stark arbeitend, so daß
die Umrisse der Sommervorlesung in mir entstanden. Heute Mittag war
ich bei Günthers (Du weißt, den weiblichen Angehörigen des
Lausegünther), und abends im
Restaurant. Sonst war das Wetter zu schlecht. Ich habe viel
gearbeitet, meist
Jellinek,
dessen scharfes juristisches Denken ich in meine Sprache umsetzen
muß, was im ganzen gut gelingt, obwohl ich wirklich nicht eben frisch
bin. Morgen Mittag werde ich bei Biermanns sein. Was ich sonst noch
tue, ist Erledigung einer maßlosen Korrespondenz.
Meine
Hauptarbeit besteht also darin, das Gewebe der modernen Kultur
aufzudröseln. Wenn sie gelingt, darf nichts übrig bleiben, was nicht
auf einer der 6 Hauptmotive zurückzuführen wäre, die ich ganz einfach
auch so darstellen
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| kann:
<Zeichnung: Sechseck mit 2 gestrichelten Dreiecken u.
einer Senkrechten innen, die manche Ecken miteinander verbinden und
außen mit Beschriftung an allen Ecken>
| Erkenntnis. | |
Macht über Dinge
(Technik-Wirtsch.) | | Liebe zum Leben d.
Dinge (Kunst.) |
Macht über
Menschen (Gipfel:
Staatssouveränität.) | | Liebe zu
Menschen. (System des Helfens.) |
| Religion (Totaldeutung des
Lebenssinnes, soweit er angeeignet
wird. | |
Überall wo Linien sind,
bestehen auch Zwischenstufen. Die herausschneidenden Figuren sind spezifischen Kulturgebilde.
Vielleicht verfahre ich nun so:
1) Methodischer Grundgedanke:
Philosophie ist keine Entwicklung aus bloßen Erkenntnisformen, sondern aus Lebensbegriffen. Sie
zerfallen in 6 Hauptgruppen s. o.
2) Jede dieser
Lebensbeziehungen ist im Individuum präsent. Nur dadurch wird das
überlegene Ganze verständlich.
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3) in
begrifflicher Konstruktion ergeben sich 6 abstrakte Individuen mit
einseitigen 6 Grundzielen:
reine Erkenntnis
höchste Herrschaft über Güter.
höchste Macht.
höchste Liebe
etc.
4) Sittlich sind, abstrakt genommen, alle, d. h. kein
Motiv darf fehlen.
5) Bei abnehmender Abstraktion besteht
Sittlichkeit in dem Koordinieren aller Motive bis zur Totalität
(Sittlichkeit - Religion.)
II Analyse
der heutigen Kulturgebilde.
A. Staat. (B.
Wirt Gesellsch. C. Wirtsch.)
1) sein Gipfel: das Machtmotiv
[li. neben 2)] der sittliche Macht-
u. Rechtsstaat.
2) aber eingeschränkt durch
Koordinative der anderen Motive:
a) Geltenlassen
d. andern, d. h. d. Staaten u. Individuen.
b)
Aufnahme ökonomischer Zwecke.
c) Regelung des
Lebens in Formeiner Gesetzlichkeit, die alsBegriffskonstruktion die
Naturgesetzlichkeit als Normen
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| imitiert.
a + b + c = Recht.
oft religiös
sanktioniert.
Ähnlich bei B u. C.
III. Rückübertragung
auf das Bewußtsein des Individuums:
Immanenz dieser
Kulturgebilde im Individuum als nationaler
Machtwille, als Rechtswille, als Selbstverzicht aus christl.
ethischem Motiv etc.
So ungefähr.
Ich muß
heute wohl schließen.
Aber noch einmal danke ich Dir für die
restlos echte und tiefe Gesinnung, mit der Du an meinem Leben
teilnimmst - ein schlechter Ausdruck, denn es ist und bleibt unlösbar
verschmolzen mit Deinem.