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Leipzig, den 26. Mai 1915.
Liebe
Freundin!
"Ein Klang von Vorwurf" klingt wohl
hindurch. Aber wie schon so manchmal, ohne daß in mir auch nur die
leiseste Ahnung eines Schattens war. Und noch heute verstehe ich
nicht, worin dieser Schatten bestanden haben könnte? Du warst der
erste, dem ich schrieb, nachdem ich unter den Pflichten des Tages
Zeit fand. Selbstverständlich. Es wurden 10 Seiten, weil ein kurzer
Brief über das Persönliche garnichts gesagt hätte. Auch jetzt blieb
ja vieles unvermeidlich noch unverständlich. Die Schreibpause war
nicht unnormal. In meinem Brief aber lag
kein Klang von Vorwurf, sondern nur von Sehnsucht. Denn als
Pfingstgruß eine 2 Zeilenkarte aus dem "Gefangenenlager" (?) ist
kurz. Aber es wird mir nie einfallen, aus Verwöhnung zu drängen. Dazu
ist mein Vertrauen und meine Gewißheit viel zu stark. Ich frage dann
eben an; wie es in der Ordnung ist.
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Wohl oder übel
suche ich nach tieferen Gründen. "Furcht vor dem
Zurückgestoßenwerden" klingt nicht eben lieblich. Aber es muß da in
Deiner Empfindung wohl etwas ein, wofür ich nicht kann. Und ich finde
die Erklärung nur in der Lage der Zeit. Sie ist so, daß kein Mensch
dem andern helfen kann, sondern nur ein Gott. Wofern wir denselben
Gott haben, wird er uns auch helfen. Ich habe meine innere Qual auch
still getragen. Soll man sich die Zeitung vorhalten?
Ich war gewiß, daß wir diese Eindrücke und
ihre Folgen für unser persönliches Leben im gleichen Sinne aufnehmen
würden. Kraft abzugeben - Gott sei's geklagt - hatte ich damals noch
nicht. Heute wieder.
Du mußt dabei auch Folgendes bedenken. Man
kommt über Lebensschicksale hinweg, aber sie sind wie seelische
Amputationen. Wenn ich
zurückblicke, so
sehe ich nichts als Trümmer meines Verhältnisses zu Menschen.
Mein Vater ein Ehemals.
Kügelgen,
Ludwig, meine Schülerinnen -
ein Ehemals.
Nieschling, der
Registrator,
Friedmann in unerreichbarer
Ferne. Was mich umgibt, im besten Falle so alt, wie mein
Aufenthalt
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| in
Leipzig. Es war die
Sehnsucht nach einem menschlich stützenden Kreise, der mich dem Hause
Riehl näher und nun ganz nah führte. Du bist die einzige, die mit
meinem Leben und Werden verwachsen ist. Das bloße Bewußtsein, daß es
so ist, hält mich aufrecht. Aber ich bin in mir härter geworden. Ein
Mensch, der eine solche Zeit durchlebt, der für sich selbst solche
Wege geführt ist, muß seinem Gefühl viel versagen. Er kann von dieser
Seite nicht mehr jugendlich weich sein, oder er würde nicht mehr
leben. Und es ist fast so - das ganz feine und weiche Gefühl für
Menschen ist in mir erstorben. Du bist im März selbst Zeuge gewesen,
wie mir von 2 Seiten zugleich ein Stück Leben abstarb. Denn der
vergessene Fall
Hofmann wirkt
doch in der Form nach, daß ich mich von jugendlichem Glauben geheilt
fühle.
Meine Lebensbestimmung kann nur noch sein, die Realistik
meiner Daseinserfahrungen für andre zur Gestalt zu erheben. Dieser
Wahrheitssinn tröstet. Dein Platz ist an meiner Seite. Ein Brief, der
zwei Tage später kommt, sollte keine Krisis mehr hervorrufen. Oder
sie kommt aus einer falschen Ecke. Jede Unsicherheit, die ich
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| in Dir fühle, wirkt auf mich wie ein Gifthauch zurück. Aber
Mann ist anders als Weib. Es gibt Erlebnisse, in denen ich nur
schweigen kann. Denn auch meine Kraft ist oft am Rande. Ich begreife
diese Zeit noch nicht. Wenn ich sie einmal begreife, werde ich wieder
Herrscher sein.
Niemand kann mir dabei
anders helfen, als daß er bei mir bleibt.
Über die Blumen des Herrn
Heinzelmann
muß ich ein Geständnis ablegen, das mir schmerzlich ist. Als ich den
Brief las, fand ich sie nicht und dachte auch nicht daran, daß sie
noch darin liegen könnten. Nachträglich fand ich auf der Erde ein
paar gepreßte Veilchen. (?) Ich zerbrach mir den Kopf, wo sie hersein
könnten, und nahm schließlich an, daß sie bei Deinem Brief, der so
mancherlei enthält, gelegen haben könnten, ohne an H. zu denken. An
demselben Tage nahm ich das Bild von
Morgner mit zum Seminar. Da kam mir der Gedanke,
diese Gabe eines Unbekannten dem lieben, ins Feld gezogenen Freunde
als Schmuck auf das Bild zwischen Rahmen und Glas zu stecken. So habe
ich das Bild aufgehängt. Am nächsten Tage suchte ich die Blu
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|men. Sie waren fort. Übrigens können sie nur fort
genommen sein. Erst Deine Karte heut machte mir
ihren Ursprung klar. Ich traure tief, daß mir dies begegnete. Denn
ich empfinde die Zartheit dieses Symbols mit der ganzen Tiefe, aus
der es kam. Ich kann mich auch nicht entschuldigen. Höchstens damit,
daß der liebe Freund, dem ich sie zudachte, an der
Lorettohöhe steht und - da heute wieder große
Kämpfe gemeldet werden - vielleicht nicht mehr ist, wo ich dies
schreibe. Wir aber wollen hoffen, daß uns der unbekannte Gott noch
ein Zusammensein im Hause Heinzelmann schenkt.
Solche Freunde nach dem Kriege um sich zu
haben, wird heilend sein. Schreibe mir doch seine genaue Adresse. Und
verzeih! Es ist nicht ungeschehen zu machen. Höchstens künftiges
Anvertrauen an Unwürdige zu verhüten.
Ich bin eigentlich sehr
traurig. Und kann doch nicht sagen weshalb. Es ist da zwischen uns so
etwas Ungeklärtes. Etwas, das sich durch Schreiben nur noch mehr
verwirrt.
Aber wer weiß, wann wir uns sehen. Deshalb ist es
wohl besser, ich sage es ganz so hart, wie es heut ist. Aber es tut
mir bitter weh.
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Du schreibst immer so gut über die
Susanne Conrad. Wirklich so
groß und rein.
Und auch in ihr ist nichts als ich.
Und ich empfinde das
tief. Wer bliebe gleichgültig, wenn er ein ganzes Leben sich gewidmet
fühlt.
Aber ich komme darüber nicht hinaus. Es bleibt, wie ich
Dir schrieb.
Die Pfade meines Lebens
sind verworren. Die glückliche Einheit meiner Natur ist zerrissen.
Ich bin ein Zuschauer, dem der Gang der Handlung von außen zugemessen
wird.
Wie soll es sein, im Herzen andrer, wenn die tiefsten
Blicke ins Leben - und ich habe sie getan - nicht weiterführen?
Da heißt es still sein und geduldig. Die Stunde muß ja kommen, wo
die Kräfte gesammelt wieder aufbauen. Oder es kommt die Stunde der
Vernichtung. Denn jeder ist für sie reif, der nicht weiter weiß.
Sollte man der
Tante in
Aachen nicht
wünschen, daß sie ein sanftes Ziel finde? Leben und
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| Leben
ist ja nicht eins. Ich fühle wohl mit der Tante. Aber das Alter
Simeons hat ein Recht auf Ruhe.
"Sollte aber
Deutschland
unterliegen, dann würde sein Geist wie ein Phönix auferstehen und
umso verklärter leben." Weißt Du, daß
Riehl das wörtlich so in
Leipzig gesagt hat? Dafür bin ich Dir
dankbarer als für alles andre. Solch ein Wort hilft vorwärts ins
Dunkelste.
Über die Feldlektüre werde ich mich durch geeignete
Proben äußern.
Die Hamburger Korrespondenz, die allein völlige
Aufklärung bieten könnte, kann ich noch nicht aus der Hand geben. Sie
ist für mich Fundament weiterer Schritte. Das sächs. Ministerium hat
Kenntnis. Sa. Summarum: eine
ungeheure angemaßte Frechheit, die ihren Meister gefunden hat.
In treuer Liebe
Dein
Eduard.