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Leipzig, den 13. Juni 1915.
Liebe
Freundin!
Heute Vormittag 3 Stunden
Kommissionssitzung, dann Staatexamensarbeit von
Frl. Neumann (Schlafpulver),
dann die philos. Dissertation eines Professors der Medizin
[über dem Wort] (!), der jetzt Stabsarzt in
Zeithain, sonst Anstaltsleiter ist, als
ungeeignet zurückgeschickt, - und die Hoffnung, nach 8 Uhr noch ein
wenig zu meinen laufenden Arbeiten zu kommen: das ist mein
Sonntag.
Hat
Hermann aus
dem
Pristerwald einmal geschrieben? Die
letzten Berichte erwähnen von dort keine Kämpfe.
Kurt macht wirklich eine
Weltreise. Es ist bewundernswert, daß seine Gesundheit standhält. Ob
wir nun in absehbarer Zeit
Rußland wenigstens
zur Untätigkeit bringen können? Ich glaube nicht recht daran, schon
weil unsre Stellung an den Grenzen Galiziens
militärisch wohl schlechter ist als in den
Karpathen. - Mit dem Freunde
Heinzelmann bitte ich auch
meine
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| Verbindung aufrecht zu erhalten. Es ist absolut
unmöglich, daß ich nur durch meine
jetzige
Korrespondenz durchkomme, ohne alles andre zu lassen.
Ein Wort
noch über Dein Verhältnis zu Mutter
Sofie Riehl, die jetzt im
Sanatorium Dr.
Amelung, Königstein/Taunus ist. Sie hat sich über Dich
immer nur in Wendungen des tiefsten Verstehens und einer ganz
außerordentlichen, vertrauenden Hochschätzung geäußert. Ich glaube,
wenn jemand ganz begreift, was wir einander sind, so ist sie es. Über
das andre hat sie sich nie geäußert: aber ich glaube es so richtig zu
deuten: Sie hat das Gefühl, daß sich zwischen Euch nicht gerade ein
dauerndes Verhältnis bilden kann, weil sie gewiß ist, Dir nichts
geben zu können, was Du nicht schon
hättest. Und ich habe öfter gefunden, daß sie nur da im Schreiben
etc. fleißig ist, wo sie denkt, etwas in dieser Richtung wirken zu
können. Es wäre mir lieb, wenn Du die Sache auch von dieser Seite
sähest. Umgekehrt ist es ja
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| ähnlich: Du würdest ihr auch
nicht dauernd zu schreiben in Dir Anlaß oder gar Antrieb
finden.
Es ist mir eine wahre Freude, daß Du mit den
Schnitzstunden Gutes wirkst. Nur nicht zu viel, d. h. gegen die
Gesundheit arbeiten. In dem s. Z. nicht abgesandten Brief stand auch
eine Mahnung nach dieser Richtung.
Bei dieser Gelegenheit muß
ich doch bemerken, daß meine Nerven sich an das abscheuliche Klima
hier völlig adaptiert haben und daß ich meine große Arbeit seit fast
einem Jahr ohne Schwierigkeiten von dieser Seite
leiste.
Geregnet hat es hier leider lange nicht genug. Die
Ähnlichkeit mit 1911 ist wirklich verdächtig. Ob der Sommer auch so
gut endet wie damals? Er täte es, wenn er den Frieden brächte. Danach sehne ich mich von Tag
zu Tag mehr. Der Mensch der Gegenwart kann nicht mehr so lange im
Kriege leben. Hoffentlich kommt dieses Erlebnis allgemein, doch ohne
Nachteil für das, was aus diesem Kriege erwachsen muß, wenn er Sinn
haben soll.
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"Verwirklichung des Wesens in der
Erscheinung." Sieh mal - bei allem Respekt und allerhand Hochachtung:
das ist so eine Wendung, von der ich nicht allzuviel halten kann,
weil sie nichts aufklärt. Es ist das etwas spekulative Scholastik.
Denn woher kennen wir denn das Wesen als aus der Erscheinung? Du
denkst die Sache (wie oft) religiös. Aber dafür ist mir der Ausdruck
dann wieder zu metaphysisch.
Morgner hat zuletzt am 5. Juni geschrieben. Um den
Registrator bin ich (s. Beil.)
in ernster Sorge.
Für heute muß ich schließen. Ich grüße die
liebe Tante, die hoffentlich
beruhigende Nachrichten aus
Aachen hat, und
bleibe
in alter inniger
Liebe
Dein
dankbarer
Eduard