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<Stempel: Professor Spranger
Leipzig, Grassistr.
14.>
29.6.15.
Liebe
Freundin!
Hoffentlich waren Deine Eindrücke in
Bernburg heut so, daß nur die Freude des
Wiedersehens zur Geltung kam und keine Sorgen für die Zukunft
bestehen bleiben. Ich hoffe morgen eine Karte mit Nachrichten zu
erhalten.
Unser Wiedersehn hat meine Seele erfrischt und mir
von neuem das Heimatsgefühl gegeben, das ich immer in Deiner Nähe
habe. Vielleicht hängt es mit diesem Aufhören der sonst
unausgesetzten Energie und mit diesem Sicherheitsbewußtsein, daß Du
da bist, zusammen, daß ich dann physisch immer auffallend
zusammenklappe. Ich muß dafür um Deine Nachsicht bitten.
Nachmittags in der Sitzung, die wie vorausgesehen negativ verlief,
konnte ich mich kaum verständlich machen. Heute früh habe ich bis zum
letzten Augenblick geschwankt, ob ich lesen könnte. Ich führte dann
aber die Stunde durch und bin auch mit dem Allgemeinbefinden,
abgesehen von der starken
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| Müdigkeit recht zufrieden, was
sich vor allem in dem Normalverbrauch an Cigarren äußert - ein
beruhigendes Symptom.
Eine der größten Freuden an m. Geburtstag war es
mir doch, daß alle Freunde im Felde an diesen Tag denken konnten, daß
sie also leben, und daß hoffentlich uns noch eine gemeinsame Zukunft
beschieden ist.
Es ist nach solchen Begegnungen immer doppelt
schmerzlich, daß man den regen Austausch nicht schriftlich
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so fortsetzen kann, wie es mündlich möglich war. Von den Briefen
teile ich die inhaltreicheren mit, wenn ich sie beantwortet habe.
Hier folgt sogleich der von
Heinzelmann (an dem ich nun einmal zum Defraudanten
werden soll) und der neueste aus
Breslau.
Es kann Dir nicht entgangen sein, daß ich nicht viel nervöse
Spannkraft mehr habe, nach diesen 5/4 Jahren unausgesetzter Arbeit
und Aufregung. In solchen Zuständen kann ich oft nicht die
Entscheidung finden, wo ich Nachm. hingehen soll; noch schwerer aber
finde ich dann die rechte Stellung zu Menschen. Wir haben über den
Fall Conrad eingehend
gesprochen. Der Erfolg war, daß ich im Augenblick der Heimkehr das
Gefühl haben sollte, ungerecht gewesen zu sein. In dem
Fall Hofmann war ich zu
vertrauend - es kam die Enttäuschung; hier bin ich vielleicht zu
kritisch u. sehe deshalb ganz einfache Dinge nicht. Es ist sehr
wichtig, daß jemand mein schwankendes Urteil unterstützt, und ich bin
Dir sehr tief dankbar dafür, daß ich mit Dir so ganz frei darüber
reden konnte.
Richtig bleibt, daß ich
S. nicht kenne. Aber eben im
Augenblick der Heimkehr las ich etwas, das mir wie ein Blitz vieles
in ihrem Wesen erhellte und was auch Dir alles in andrer Beleuchtung
erscheinen lassen wird.
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| Sie schickt mir "
Fontane, Vor dem Sturm". Auf
dem Titel steht: "Suche aber Menschen, denen Du zutraust, daß sie
Dich in Deinem Edelsten und Reinsten verstehen und unterstützen
können. Und sprich zu Ihnen, ganz
einfach,
kühn und
vertrauend" diese Worte haben mir oft Mut und
Kraft gegeben. -
"Vor dem Sturm"
und bis
heute.
S.
Und der beiliegende Brief zeigt doch gewiß eine
reine, gute Seele. In dem
Fall
Hofmann habe ich gedacht, eine Pflicht unter schwierigen
Umständen ausüben zu müssen, weil in mir gerade
diese Kraft ist.
Hier
haben mich ähnliche Gefühle bewegt. Aber
wie weit reicht dies
nun? Ich bin, wie Du weißt, einer von denen, die am Menschen und
seiner Art zu sein eine Freude haben, wie andere an Blumen und
Landschaften. Ich habe dies manchmal einen "Goldblick" genannt und
beklage den Fall Hofmann, weil er diesen Blick doch etwas Lügen
strafte. Aber wie ich den ganzen Fall
S. C. hineinkam, das verstehe ich nachträglich noch
immer sehr gut mit folgendem: Es ist da unter m. Studentinnen eine
andere Susanne - ich kenne sie absolut
garnicht, auch nicht aus Gesellschaften. Sie
hat nie Zeichen v. Intelligenz gegeben, nie eine Freundlichkeit
erwiesen, sie ist nicht hübsch, sondern rundlich, sie ist nicht tief,
sondern heiter. Und doch habe ich aus dieser
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| Form der
Beobachtung das Gefühl: in dieser Hülle steckt eine wertvolle,
kerngesunde Menschennatur. Ich bin Gottlob außer aller Gelegenheit,
es ihr zu sagen oder anzudeuten. Aber ich bin fest überzeugt: wenn
ich diese ästhetische Freude einmal äußerte, würde sie darunter auch
nichts andres verstehen als "Heiraten". Und das ist eben das Dilemma:
ich war "in diesem Sinne" wohl in alle meine Schülerinnen früher
verliebt; aber ich habe das doch nie verwechseln können mit der
starken individuellen Konsonanz, aus der eine Gemeinsamkeit des
Lebens folgen könnte.
Im vorliegenden Fall fürchtete ich nun
ganz besonders, daß
dem Vater
etwas zugestoßen sein könnte u. daß er nicht mehr zurückkehrt.
Erstens aus menschlichem Gefühl. Zweitens, weil dann alles viel
schwieriger wird. Denn im stillen wollte ich den hoffentlich nicht
fernen Tag, wo auf dem wiedererstandenen Althof alle sich fröhlich
vereinten, zu einer milden, aber um ihretwillen endgiltigen Klärung
benutzen. Denn der Zustand, wie er jetzt ist, schädigt nicht mich,
sondern sie.
Nun aber genug von diesem verwickelten Thema.
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Fräulein Scheibe bitte ich
mitzuteilen, Du hättest mich ganz außer dem "Einband" getroffen.
Sodann erbitte ich Mitteilungen über die Aachener Reise. Sie sollte
jedenfalls so gestaltet werden, daß sie weder für Dich noch für
die Tante zu anstrengend
wird.
Ich muß für heute schließen, weil ich noch ein paar
Dankbriefe schreiben will und dann wieder an die Arbeit muß. Ich
danke Dir für die beiden Tage im Harz, ich
danke Dir, daß Du bist.
In Liebe stets
Dein
Eduard.