[1]
|
Leipzig, den 4. November 1915.
Liebste
Freundin!
Das Semester fängt gut an. Du mußt
verzeihen, wenn ich auch in diesem Brief, den ich eilig
zwischenschiebe, noch nicht auf die vielen Punkte Deiner beiden
lieben Briefe eingehen kann, wie ich möchte. Laß es mich bitte nicht
entgelten u. halte mich auf dem laufenden, ob Du Dein Mißbefinden
ganz überstanden hast, wie es
der
Tante mit ihrer Erkältung geht, und was Ihr für Nachrichten
über
Hermann habt.
Ich
habe konstatiert, daß ich wirklich vom Aufstehen bis Schlafengehen
nur im Beruf tätig bin. Es ist gut so. Denn es füllt mich aus u. hält
die schweren Zukunftsfragen fern. Es bleibt bei meiner Ansicht: der
Krieg muß in diesem Jahr enden, oder es endet unter unsren
Erwartungen. Ob es mir vergönnt sein wird, dies Semester noch zu
vollenden? Zwei von unsern Offizieren und verschiedene andre sind mit
Erfolg reklamiert. Aber man wird bald alle
brauchen.
[2]
|
Alle Vorlesungen sind
gut im Ganzen. Überall lohnt der Besuch. Mein
kleiner Frauenhochschulkreis kostet mir zwar viel Zeit, macht mir
aber besondere Freude. Heue ist auch die Denkschrift von
Gertrud Bäumer eingegangen; sie
ist klug abgefaßt, obwohl ich noch bessere Pläne habe. Die Hauptsache
ist, daß zunächst ein Vertrag zustande kommt, und ich hoffe darauf. -
Schwer aber ist es, mit all diesen Arbeiten die Fortsetzung der
beiden Artikelreihen zu verbinden, die mich
beide
sehr interessieren, und aus denen
gestern Abend ein Schlußgedanke herausgesprungen ist, den ich noch
nicht voll übersehe, der aber vielleicht
mein Gedanke ist.
Mit all meiner
Korrespondenz bin ich furchtbar im Rückstande. Überhaupt ahnt wohl
kein Mensch, wie ich die Zeit bis zum letzten ausnütze, ohne doch
fertig zu werden.
Der Artikel über
Lask hat mich interessiert. Ich
habe ihn in
Berlin in
Simmels Übungen flüchtig kennen
gelernt. Er war sehr scharfsinnig, eben ein Jude von talmudistischen
Verstand.
[3]
| Nach meinem Eindruck hatte er keine Zukunft: der
krasse Logiker. Sein Buch über
Fichte ist ganz von
Rickert abhängig, ungemein scharf, aber historisch
grundverfehlt. - Wie ich höre, vertritt
Driesch die beiden
Verstorbenen. Weshalb soll
Heidelberg nichts
für mich sein? Es würde für mich jedenfalls wahrhafter in Betracht
kommen als
Hamburg.
Morgner ist noch nicht hier; er
schreibt seltener und scheint noch garnicht auf der Höhe.
Hans Heyses Vater hat mir jetzt
auch geschrieben.
Ihm selbst
habe ich schon etwas von
Hegel
nach
Belle-Ile geschickt.
Milkner soll schwer verwundet
in die Hand von Kolonialtruppen gefallen sein. Der Arme!
An
Hintzes Buch hat sich eine
unerhörte ultramontane Polemik geknüpft, Vorboten der Zeit, die
kommen wird.
Ich muß leider abbrechen, weil ich heut Abend noch
lesen muß u. mich darauf wie für morgen vorzubereiten habe. Lies
bitte alles Liebe aus diesem Brief heraus, was ich nicht
ausgesprochen habe, und habe auch in den nächsten Tagen noch Geduld
mit Deinem Dich herzlichst Grüßenden