[1]
|
22.III.16. spät.
Sächsischer Bußtag.
Liebe Freundin!
Die sonnigen Tagen waren
schnell vorbei; heute schneit und regnet es abwechselnd. Aber das
Gedenken an diesen Frühlingsaufenthalt in Cassel begleitet mich freundlich, und ich danke Dir
für die Sonne, die Du mir gegeben hast. Bis in das Äußere hinein bin
ich restituiert: mit Nahrung verwöhnt, an den Knöpfen
vervollständigt, sogar ein Stück Seife - was kann man heut Schöneres
schenken - und Vielsagenderes (!?) "Verrenkte Seelen" gehören zur
Signatur der Zeit. Dazu muß es in der Welt erst wieder anders werden,
damit wir das überwinden. Und wann - und wann?
Mein Leben
seitdem ist bewegt. In der Bahn war es zum Lesen zu finster. Im
Speisewagon zum Sattwerden zu teuer (es wird damit wirklich
ernst!)*)
[Fuß] *) 4 Scheiben Lachs u. 4 gleich große
Scheiben Brot 1,60 M. Es war auch ganz
leer. Vor
Weimar hielten wir ½ Stunde.
[neben der zeile] Betriebsunfall. Nach 12 kam ich
nach Hause; fand einen Haufen Post, auch von der Hochschule und
Biermann, von
Hintze u. a. Ich saß noch bis ½
2. Eben war ich um ¾ 9 beim Rasieren, da riß Biermann
[2]
| nach
seiner Art an der Klingel. Um 10 mußte ich einen Doktor prüfen. Um ½
12 war Frauen-Hochschulkonferenz, die sehr feindselig verlief.
Zwischen 3 und 4 schrieb ich das Vorwort, das
Muthesius per Eilbrief verlangt
hatte. Um 4 war ich in der Sprechstunde, die trotz der Ferien bis ½ 7
dauerte!! Zuletzt kamen noch die beiden Besten von den 7 Getreuen, um
vor ihrer Abreise Adieu zu sagen. Ich konnte kaum mit ihnen sprechen;
denn um ½ 7 war schon Konferenz mit Biermann verabredet. Um 9 brachte
ich den Absagebrief an die Hochschule und die Eilsendung für
Muthesius in den Kasten. Heute früh ordnete ich die eiligste
Korrespondenz und ging auf das Seminar. Inzwischen war
Witkowski im Auftrage der
Hochschule da. Um 1/2 2 kam in m. Mittagsschlaf ein Eilbote von
Biermann in dieser Sache. Um 3 begann ich die Dissertation des
Armeniers
Gasparian zu lesen,
die ich eben erledigt habe, weil
Goetz drängt. Um 6 war eine Konferenz zu fünf
Personen in m. Wohnung - mit dem Erfolg, daß ich den Vorsitz des
Kuratoriums übernehmen muß. Witkowskis großes Geschick hat erreicht,
was aus 1000 Gründen schwer und eigentlich nicht wünschenswert
[3]
| ist. Aber das Gegenteil war auch nicht wünschenswert, das ist
der Fluch überlegener Leistung, daß man die Karren aus den Dreck
holen muß.
Morgen und die folgenden Tage soll die "Deutsche
Schule" fortgesetzt werden. Mittags bin ich bei
Goetz. Du siehst - mein Leben
ist von der stillen Humanität wirklich zur organisatorischen Arbeit
übergegangen.
Den Verlust an Seele,
der damit verbunden ist, mußt Du ja fühlen, das ist nun einmal unser
Los. Was Du davon in mir nicht rettest, wird verloren sein. Deshalb
liege ich immer mit einem Anspruch auf Deinem Sein,
das den Du doppelt deuten kannst: als
maßloses Verlangen ohne Geben und als grenzenloses Vertrauen, das
eben in Dir den Lebenssinn sieht. Ich nehme die letztere Deutung als
die echte und allein würdige. Laß Dich nicht niederdrücken davon.
Denn von Deiner Kraft hängt nun einmal unendlich viel ab.
Der
lieben Tante danke ich für ihre
immer gleiche Güte und Fürsorge. Hoffentlich hat sie nicht zu viel
Unruhe gehabt. Verwöhnt hat sie mich so, daß Stolpes ihr Elend
doppelt spüren werden. Wie geht es denn
dem Kinde in
Hofgeismar?
[4]
|
Herre war in
Königstein (Taunus). Wenn
er Wetterglück hat, ändert sich die Welt.
Das ist mein Optimismus.
Was ich zu arbeiten habe, kannst Du
ermessen. Es ist aber wohltuend, wenn man jetzt weiß, wo man
hingehört. Die Universität Leipzig hat keinen
zweiten wie mich zu versenden. Hoffentlich denkt sie daran.
Alles kommt zu mir, alles hofft auf mich.
Das ist eben auch so ein Opfer persönlicher Existenz, wenn auch nicht
auf dem Schlachtfeld. Aber das kann ich beeidigen: für mich als Ich
fällt schon deshalb nichts ab, weil auch der Ehrgeiz, der mich früher
beseelte, sein rechtes Maß in diesen Weltschicksalen gefunden hat.
Was ist Größe, was ist Leistung? Es gibt nur Verpflichtungen.
Der helle Glanz der Tage in
Cassel aber
leuchtet im mir nach. Denke auch Du an sie, wie
es heut möglich ist - als an ein Begegnen in aller Echtheit,
Wahrheit, Liebe und Treue. Denn das war ja wohl immer so, daß wir
mehr gemeinsam erduldet haben als genossen. Und wir wollen auch dies
als ein Geschenk vom Himmel nehmen. Mit innigem Dank an Dich und
die Tante bleibe ich in
liebevollem Gedenken Dein