[1]
|
Leipzig, den 28. Juni 1917.
Mein
Liebling!
In ernste Zeiten und arbeitsreiche
Tage ist ein Festschimmer hineingefallen, der mir unverdient
erscheint, aber beglückt, wie Liebe immer glücklich macht. Nicht der
Hauptanteil gehört Dir, sondern Du bist für mich Sinn und Inhalt
dieses Tages. Ich kann das nicht, wie Du, in tausend lieben Formen
und Symbolen ausdrücken. Ich kann nicht einmal aufzählen, was Du
alles für mich getan hast, trotz Deiner angestrengten Augen, des
Mangels ringsum und Deiner mit täglichem Fleiß ausgefüllten Zeit.
Hoffentlich kann ich auf der zeitlosen Grundlage, die Du für mich so
schön bereitet hast, etwas Würdiges schreiben. Die Erinnerungen an
Freudenstadt und an
Berka werden mir dazu Kraft geben; für Federn hast
Du selbst gesorgt. Die andern Bilder erinnern mich an manche zusammen
durchgekämpfte Stunde. Die Seife will ich benutzen, um mich von allen
allen Sünden lilienrein zu waschen. Das Eßbare aber will ich
auffressen, damit der neidische Leib nicht wieder revoltiert.
[2]
| Trübe Gedanken und Sorgen will ich an den beiden Haken
aufhängen. Aus jedem einzelnen aber sieht mir Dein Bild entgegen, und
ich fühle mit Andacht meinen Reichtum.
Ganz besonders
wohltätig war mir das Geschenk der lieben Tante und Ihre gütigen
Zeilen. Es ist mir ein tiefes Bedürfnis, sie und
Dich mir nahe zu wissen, und ich umfasse Euch als eine liebe
Einheit. Du bist so gut, ihr einstweilen meinen Dank an meiner Stelle
auszusprechen.
Ich will Dir kurz, so lange es meine Zeit
erlaubt, den Verlauf des Tages schildern. Schon am Dienstag regte
sich des Morgens im Kolleg vermehrtes Trampeln;
Morgner, der in Extrauniform da
war, hatte offenbar ein falsches Datum verbreitet. Er sandte eine
vorzügliche Torte und eine Flasche Portwein. Mittwoch früh fand ich
am Kaffeetisch 2 brennende Lichte, einen großen
Fuxiatopf u. eine
n von
Marianne gebackene Torte.
Gleich nach mir erschienen beide Hausgenossinnen, und gratulierten.
Alles doch mehr Stil als
Grassistr. 14. Es
waren zahllose Briefe da, bis heute wohl 35. Darunter bis zu 20 Seiten.
Frl. Kiehm hat einen
[3]
|
Aufsatz geschrieben im Anschluß an die "Lebensformen",
Frl. Wezel legte einen
Hamburger Vortrag bei,
Susanne
Conrad sandte außer Blumen u. Makronen ihre Seminararbeit "in
ehrlicher Verehrung."
Dora
Thümmeleinen humorvollen, aber von vielen
Leiden erzählenden Brief.
Klara Müller, geb. Runge, legte
Bilder von ihrer Kriegstrauung bei (4. Juni.) Nun, Du wirst ja das
Lesenswerte selbst lesen. Hab nur ein wenig Geduld; ich ersticke vor
Arbeit und äußerlichen Pflichten.
Nachdem ich Dein Packet mit
Genuß ausgepackt u. mich daran gefreut hatte, erschien
Morgner. Wir tranken Portwein
u. aßen Torte (auch
Theresa
Zangenberg hatte eine gebacken). Zu diesem Gelage erschien -
Gretchen Stolze, jugendlich und
frisch wie immer,
sehr nett, mit Nelken,
getrieben vom Geist und der - Neugier. Es ging ihr Gott sei Dank
schlecht. Um ¾ 1 Aufbruch zu
Biermann.
Schon die Zofe gratulierte. Mein
Tischplatz war im Halbkreis umrahmt von zahllosen Geschenken, der
Stuhl bekränzt. Albert
erläuterte ernst und gewichtig. Diese Gänse, zähle sie (es waren 12
schnatternde und halswackelnde Tiere) sind die 12 Dozentinnen der
Frauenhochschule. Dies ist Deine Frau Wirtin (eine fromme
[4]
|
Weibsfigur mit der aufgeklebten Inschrift: "Gesegnete Mahlzeit." Ein
Bildchen von
Schwind mit den
Worten der
Frau Volkelt: "Sie sollten
heiraten, Herr Professor, es wird Ihnen gut tun." Rechts ein Herz:
Sei helle, bleib ein Junggeselle, links: "Flink gefreit, hat niemand
gereut." Das Buch von
B.
Schleicher über die Idealistin
Malwida mit Widmung unter Bezugnahme auf die
Realisten
Walter (Goetz) u.
Richard (Schmidt.) Das
Ehezuchtbüchlein. 6 Gänseleberpasteten. 2 Schachteln Cigarillos. Ein
Aschbecher (ich nehme an, daß Sie ihn nur draußen benutzen.), ein
Schächtelchen mit Bonbons etc.
Rösi, die atemlos aus der
Schule kam, sagte ein beziehungsreiches Gedicht von Mama anstelle der
Rede von Papa,
sehr sehr hübsch.
Bubi und
Lenchen brachten jedes ein
Bouquet. Ich hatte natürlich auch kleine Geschenke für die Kinder
mitgenommen. Wir blieben bis 3 zusammen; dann mußte
Albert nach
Dresden.
Ich eilte nach Hause und
gedachte schnell zu entfliehen, aber der dicke
Dr. Lückel kam zuvor. Er wurde
durch Torte, Kaffee u. Cigarre befriedigt. Dann machten wir einen kl.
Spaziergang. Den Abend hatte ich schwer zu arbeiten. Inzwischen hatte
der
Famulus ein dummes
Telegramm aus dem Seminar gebracht: "Hurra, Eduard, daß die Erde
wackelt. Ob hei sich woll wat merken lat?" Was er natürlich
recht tat.
Heute früh vor dem Eintritt in den Hörsaal hielt mir der
Famulus eine kurze Rede, die
mich lebhaft an den Stil von
Beck erinnerte. Nach dem Kolleg mußte ich zum
Examen,
[5]
| nach dem Examen zur Sprechstunde, nach der
Sprechstunde zu Rohns, der auf Grund eines Druckfehlers im Un.
Kalender im Verdacht stand, Geburtstag zu haben. (So war ich schon
Dienstag reingefallen: ich schrieb 9 Seiten zum 70. Geburtstag v.
Paulsen, um festzustellen, daß
er schon 1916 war.)
Der Fall
Wien ist
fürs erste aus dem Gesichtskreis gerückt und kann Wochen, ja Monate
dauern. Aber der
kl. Scholz
schreibt u.a: "Am Sonntag sprach
Harnack sehr ernstlich davon, Du würdest hier eines
Tages Ordinarius werden, und der gute
Ferdinand Jakob werde irgendwohin "versetzt"
werden."
Mit alledem kontrastiert sehr merkwürdig, daß ich
alle meine Philosophie einfach verlernt
habe. Ich habe bei allen Examina ernstliche Mühe, mir die Dinge zu
rekonstruieren. Daher auch die Arbeitslast, unter der ich seufze, und
die mich zu nichts kommen läßt. Es erfordert wirklich wieder alle
Kräfte. Morgen ist zu allem wieder Auslandssitzung.
Die
Stimmung hier und allenthalben ist sehr schlecht. Man denkt an den
nächsten Kriegswinter. Selbst
Biermann ist unter die Miesmacher gegangen.
Scheidemann schreibt vom
Winterfeldzug.
Ich halte daran fest, daß
wir keinen Winter mehr durchmachen, entweder, weil wir vorher siegen,
was ich hoffe, oder weil wir vorher kaput gehen,
was ich wegen der
[6]
| zweifelhaften Ernte fürchte.
Kerschensteiner hat 8 Seiten
geschrieben und grüßt - "Ihre
stille, von
mir sehr verehrte Freundin." Durch
Muthesius erfahre ich, daß die Denkschrift auf
Grund der Pfingstkonferenz sehr beschleunigt werden soll! Auch das
sächs. Ministerium will für den Winter schon das
Balkaninstitut
eröffnen. Steckt hinter alledem nicht auch etwas Angst vor dem
Unzeitgemäßsein, die Furcht vor der Demokratie, die, weil wir sie
nicht haben, uns vor allen Bittern herabsetzen soll? Na,
Plato dachte anders.
Für
die mitgesandten Sachen danke ich ebenfalls herzlich. Das
Namensschild ist bei Stolpes, und so wäre bis auf das kleine
Wandbrett alles gefunden.
Über das Verhältnis
meines Vaters zu mir habe ich
wieder lebhaft nachdenken müssen. Ich bin für ihn eigentlich gar kein
lebender Mensch mehr. Er hat für nichts an meiner Existenz ein
Interesse. Sein Geburtstagswunsch ist die fromme Wendung über meine
Gesundheit, wie sie seit Monaten wiederkehrt. Nun kann das ja im
hohen Alter nicht anders sein, und es ist sehr gnädig von der Natur,
wenn sie noch so viel übrig läßt. Aber eben von dem, was sie übrig
läßt, sieht man dann doch deutlich den Kern, der
[7]
| da war,
ein gänzliches Aneinandervorbeileben und Nichtverstehen. Das alles
unter dem Etikett Liebe. Das ist für jemanden wie mich eben doch ein
unerträglicher Stachel, stärker als das Problem
Felicitas, daß ich neben jemand
jahrelang lebe, ohne zu verstehen und unverstanden. Vielleicht
Bestimmung, daß mir das, was ich vor allem suche, immer in seiner
Unerfülltheit vorschweben soll. Das Verstehen ist ja in Wahrheit so
gering. Die meisten Menschen verstehen nicht einmal, daß man Grenzen
der physischen Kraft hat, auch als Briefschreiber; sie sind immer nur
voll von Anklagen. Übrigens merke ich die ganze Schwere jener
Differenz in regelmäßig wiederkehrenden Träumen.
Heute ist
Strümpells Geburtstag, und
trotz aller Lauferei ist ein Teil doch noch schief gegangen. Er hat
nun endgültig bekommen:
R. Wagner, Mein Leben 3 Bde
| 60 M. |
Schubert, bisher 2 Bde (von
5) | 48 M. |
Novalis 4 Bde in
Pergament | 22 M | } f. d.
Tochter. |
Ricarda Huch Romantik | 15
M | } |
Blumenarragment | 12 M |
Brief. | ––– |
–––––––––––––––––––––––––––––––––––– | –––––––– |
| 157 M. |
Ob eines
davon das Rechte ist? Solche Frage ist immer fatal.
[8]
|
Es ist gleich ½ 11, und ich muß schließen, da morgen ein schwerer
Tag um ½ 7 beginnt. Um Wien brauchst Du Dich
nicht zu beunruhigen. Man müßte mich sehr ärgern, wenn ich es
annähme. Übrigens glaube ich noch immer an Vereinigung der deutschen
Teile mit Deutschland, und dafür müssen
schließlich Männer da sein, die das tragen. Aber dazu fühle
ich mich in der Tat wenig berufen.
Schmoller ist nun auch
gestorben. Ich verdanke seiner Gesamtauffassung sehr, sehr viel. Er
war ein vorbildlicher Mann, den ich verehrt und geliebt habe. So
gehen die alten Führer dahin. Auf uns liegt es; aber niemand will
heute mehr geführt sein.
Durch die Hast der Tage und die Last
der Sorge begleitet mich Dein Bild als ein guter Stern. Laß ihn über
mir leuchten, auch wenn ich im Gedränge des Täglichen Dir nicht in
ruhigen Worten sagen kann, was Du mir bist und wie ich in Dir meine
Heimat finde. Mein Dank gilt auch nicht dem einzelnen, sondern daß Du
da bist, erfüllt mich mit nimmer endendem Dank, und den fühlst Du
auch aus diesen Zeilen. Sei innig gegrüßt von
Deinem
Eduard.
[li. Rand] Gern
schickte ich von der Torte. Sie würde als Matsch ankommen. Dafür
nächstens anderes. - Morgen schicke ich Dir 50 M, die ich
<Kopf> Dir schulde, und weitere 50 zum
Ersatz der Auslagen für mich; sollte ein Rest bleiben, bringst Du es
gelegentlich wohl auf die
Sparkasse.