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Leipzig, den 4. November 1917.
Liebste
Freundin!
Meinen Kartenbrief mit Einlage vom 22.
Oktober, die Karte vom 29. und die beiden Drucksachen (
Luther und
Shaftesbury) wirst Du
hoffentlich erhalten haben. Ich habe seit Deinem lieben ausführlichen
Brief vom 22.X. nichts von Dir gehört, hoffe aber, daß es Dir außer
unsrem gemeinsamen Übel, der Arbeit, gutgeht. Das Bensonpflaster hält
sich doch? Ich habe gewiß bald Veranlassung, es zu benutzen; denn
"es" zieht noch immer überall herum. Der Artikel von
Weber war wieder interessant
und wird gewiß besser sein wie der von
Goetz. Aber man hat den Eindruck, daß er der allein
Kluge in
Deutschland ist, und in der Tat
beweist dies ja sein dreifacher Ruf.
Neues gibt es hier
eigentlich nicht. Ein kleiner Materialschaden ist zu melden: der
rechte Schreibtischkasten ging so schwer, daß ich eines Tages den
Metallgriff abriß und noch dazu verbog.
Frl. Goetze hat den Schaden
einigermaßen mit vielem Geschick kuriert. -
Meine Arbeit über das Kultusministerium
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| ist bereits
gedruckt, 24 Spalten, vielmehr Fahnen, d. h. 48 Spalten. Ich habe
heut den ganzen Tag, z. T. bei ungenügendem Licht, daran korrigiert,
und meine Augen sind recht angegriffen. Übrigens habe ich mich
inzwischen schon der neuen Sache zugewandt:
Rich. Wagners Schriften. Das
erste war, daß ich denselben Grundgedanken, den ich im "
Beethoven", ohne W. zu kennen,
ausgesprochen habe, dort wiederfand.
Ich bin begierig, was Du
zu meiner Ministeraudienz sagen wirst. Der Fall
Hertling macht natürlich auch
sein Bleiben unsicher. Immerhin wird man in
Berlin genau wissen, daß dieser Reichskanzler auch
wieder nur teils ad hoc, teils als retardierendes Moment, berufen
ist, und daß dann erst nach dem Frieden die große Neuorientierung
kommt. Wenn übrigens der
Min.
nicht sehr stark beeinflußbar ist, kann mir seine frdl. Gesinnung nur
nachteilig sein. Denn solche Aufträge - es ist der dritte, den ich in
diesem Jahr ausführe, kosten Zeit, und die Nähe des Chefs macht nie
beliebt.
Dein Pessimismus entspricht der Reichstagsauffassung,
wie sie auch
unser Abgeordneter hier
neulich in geschlossenem Kreise geäußert haben soll. Ich gebe die
Realität
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| der meisten Punkte zu, behaupte aber trotzdem,
daß wir so gut stehen, wie irgend möglich, und vor allem, daß wir nie
besser gestanden
haben, auch damals nicht,
als uns der Himmel voller Geigen hing. Von der italienischen Sache
erwarte ich politisch wenig; aber eine wichtige Rückwirkung auf
Frankreich. Der entscheidende Faktor bleibt
der Ubootkrieg, und wenn der nicht bis April zum Ergebnis (d. h.
Annäherung) führte, so würde man bei diesem Reichskanzlerwechsel
sicher zum Parlamentarismus geschritten sein.
Walther hat mir geschrieben;
nur "widerlegend", ganz nach Hadlichscher Art.
Thiele scheint in
Italien. Die heutige Sitzung des D. A. in
Berlin ist wegen mangelhafter Beteiligung
abgesagt worden. Ich habe daher gestern mit
Morgner (seit dem 30.IX.) einen
Spaziergang machen können; davon habe ich mir eine Schnupfenneigung
mitgebracht u. muß nun wieder vorsichtig sein. Was ich arbeite,
arbeiten
muß, ist ungeheuer. Sachlich wird
mir alles ganz leicht, bis auf die danaidenhafte Briefschreiberei,
die doch nur den Erfolg hat, daß niemand zufrieden ist. Der
kl. Scholz ist nun schon in
Berlin. Ich muß ihm was schenken.
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Die Vorlesungen sind gut im Gange. Ich sende ein paar Gedichte mit,
die 3 wundervolle Äpfel begleiteten. Außerdem kamen namenlose
herrliche Nelken. Alles die Wirkung der
Platostunden in der Pädagogik.
Mir sind am wertvollsten die Übungen, wo
ich die Kerls scharf heranhole. Die Reformationsfeier am 31. war
hundsmäßig schlecht organisiert; die Rede des
theol. Rektors erzeugte eine
bankweise Massenflucht.
Die Fortbildungsfrage der Oberlehrer
soll
geheim sein; ich darf daher nicht viel
Einzelheiten berichten. Du hast natürlich ganz recht, daß die Sache
nicht auf das
alte Geleise geschoben werden
darf, das wir mit Mühe verlassen haben. Könnten wir reden, so hätte
ich viel über Kontinuität (?) im Min. zu sagen. Aber alle
Reisegedanken muß man jetzt aufgeben. Das wird wohl vor Frühjahr
nichts werden. Es ist vor allem zu ungesund. - Daß Du mit
der Tante in einem Zimmer
schläfst, will mir aus vielen Gründen nicht gefallen. Es ist
nachgrade so, daß Du Dir gar keine Minute mehr am Tage gehörst. Und
das macht natürlich müde.
Ich bin es heut auch. Die
unvollständige Adresse neulich war aber nicht auf diesen Zustand
zurückzuführen; der Umschlag lag schon "fertig" da,
war aber noch unfertig. Alles Gute und
tausend herzliche Grüße auch an die
liebe Tante Dein
Eduard.
[Kopf] Die Karte an
Friedmann wirf bitte in einen
Kasten. Hier würde sie möglicherweise Frl.
Haas in die Hand geraten.[re. Rand S. 1] Heute die herrlichsten Fressalien aus
Berka!