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Seminar, den 22.XI.17.
Liebste
Freundin!
Gestern habe ich 11 Briefe
geschrieben. Den zwölften, den Du bekommen solltest, habe ich dann
nicht mehr schreiben können, weil sich ein Nachmittagstee bei
Volkelt, an dem auch Strümpells
teilnahmen, zu lange hinauszog und ich erst um 11 Uhr mit meiner
Vorlesung fertig war. Heute möchte ich Dir nun vor allem für die
Sendung nach
Lüdenscheid danken. Wenn es auch
zu spät war, so ist es mir doch eine Beruhigung, daß sofort geschehen
ist, was geschehen konnte. Der Verlust
der Tante ist mir schmerzlich, weil sie wirklich an
mir hing. Ich hatte gehofft, sie noch einmal besuchen zu können. Aber
das ist nun dahin.
Auch mir würde es unerträglich sein, in
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| einer Zeit, wie dieser, nur zu "verstehen." Aber so liegt es
auch nicht: wir verstehen
nicht, und
deshalb haben wir keinen Standpunkt. Was nützt es, sich durchaus eine
Auffassung anzueignen, wenn einem alle Unterlagen fehlen, auf die man
sein Urteil stützen soll? Wie kann ich für die Kriegsverlängerung
sein, wenn ich nicht weiß, ob das Ubootunternehmen auf
richtigen Voraussetzungen beruht? Übrigens
ist mir meine allgemeine Stellungnahme ganz klar: Vaterlandspartei
ohne Reaktion und Annexionen,
Scheidemannpartei ohne Pöbelherrschaft und
Friedensangebote. Ein "ehrenvoller" Friede wäre mir ein Friede, der
im wesentlichen den status quo herstellt.
Ich bin
gegen Verflechtung mit
Kurland -
Litauen und
Polen,
gegen die
ganze Orientpolitik und
gegen
Konfliktverhältnisse mit
Rußland. Ist das
standpunktlos? Ich glaube nicht. Zu Einzelheiten aber fehlt mir eben
die Kenntnis der Einzelheiten.
Ich habe vom Semester
eigentlich genug. Deshalb ist es mir sehr lieb, daß durch den Besuch
von
Frau Witting vom Sonnabend
ff. eine kleine Pause
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| eintreten muß. Denn mein Kopf
streikt jetzt doch schon oft genug.
"Hadlichsche Art." Du
wünscht darüber eine Belehrung. Merkwürdig, daß Du Dich getroffen
gefühlt hast.
Die Tante rechne
ich bestimmt nicht dazu; eigentlich nur die Herren. Und gemeint ist
die Neigung, Sätze zu bestreiten, die entweder ganz scherzhaft, oder
nur nebenbei gesagt waren oder aber so feststehen, daß man sie nicht
bestreiten kann.
Hermann würde
ein Buch schreiben z. B. um zu zeigen, daß jetzt nicht alle Leute
mager werden oder daß dies moralisch ganz belanglos ist.
Walther weist alle Verdienste
der Kriegsentbehrungen von sich. Oder: Hermann, der nach s. Bildern
bedrohlich gealtert ist, bestreitet meine Ansicht, daß wir älter
werden und nicht frischer. - Ob Du mit in diesen Hexenkessel kommst,
hängt von Dir ab. Die Neigung, zunächst den Kopf zu schütteln und
abzulehnen, hast Du allerdings. Was tut es, daß
R. Wagner maßlosen Selbstkultus
trieb? Er war groß genug dazu, und was
ich
bei ihm suche, wird ja wohl ein Innerliches sein.
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Der
Minister hat mir wieder
einen 4 Seiten langen Brief geschrieben, der in mancher Hinsicht ganz
interessant ist (aber wiederum vertraulich), auch insofern, als er
meinen grundsätzlichen Brief völlig ignoriert. Da nun der letzte
beinahe
nichts sachlich Wichtiges enthält,
wollte er mir dadurch sagen: Ich kann Dir antworten, aber nicht
darauf? Oder ist sein Gedächtnis nur für
seine Gedankenreihen entwickelt?
[re. daneben] NB. er läßt 400 Exemplare meines Artikels
herstellen. Was hast Du über
Nordhausen herausbekommen? Ich habe auf der Fahrt
nach
Gera (wo ich
Muthesius Deine Berkaer Bilder
versprechen mußte) in dem ungeheizten Bummelzug sehr gefroren,
trotzdem ich eine Decke mithatte. In den Weihnachtstagen zu reisen,
scheint mir diesmal nicht erlaubt und nicht rätlich. Aber vorher oder
nachher würde es doch möglich sein, wenn die Züge passen. Und eine
solche Begegnung scheint mir wichtiger als der Stuhl, auf dem ich
doch nur allein sitzen kann. Du weißt ja, daß ich mich über so etwas,
wenn es da ist, sehr freue; daß ich aber einen krankhaften Geiz habe
in allem, was meine häuslichen Bequemlichkeiten betrifft. Wenn wir
den Frieden schon
hätten, oder sicher in
Aussicht hätten, würde ich ja sagen. So aber bitte ich Dich, meine
"Scheu" zu verstehen.
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| Du weißt ja, aus welchen Erlebnissen
sie erwachsen ist. Trotz meiner großen Einnahmen - die Zahlen habe
ich Dir das letzte Mal geschrieben,- bleibt merkwürdigerweise nichts
übrig. Wohin soll das?
Montag war ich mal wieder in der
Paeonia, ein
erster Versuch zu abendlichem
Ausgehen. Der am Sonnabend war mißglückt: als ich in die Garderobe
des Theaters wohl vorbereitet im Klavierauszug der "Walküre" kam,
erfuhr ich, daß man mir ein Billet zum Tage zu
vor verkauft hatte! - Freitag Nachm. bin ich beim Kollegen
Wackernagel (Frau:
Ilse v. Stach.) Montag kommt
Lehner (
Nürnberg) auf der Durchreise. -
Riehl neigt etwas zu
Erkältungen und rheumatischen Anfällen neuerdings. Auch
Str. klagt über solche
Erscheinungen, eine Folge seiner Wohnung, wenn er
mich konsultieren sollte.
Über die
wunderbar reparierten alten Strümpfe habe ich mich sehr gefreut. Ich
komme nun mit der zaghaften Anfrage, ob es für Dich sehr mühsam ist,
auch andre in dieser Weise zu behandeln? Dann gebe ich die 4 Paar,
die schon wieder schadhaft sind, der "Dame von oben", die sonst meine
Reparaturen besorgt.
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Siegellack gibt es hier auch
nicht mehr zu kaufen.
Cambrai macht mir seit
gestern Sorge.
Italien lehrt die Konsequenzen
einer einzigen Durchbruchstelle. Das würde alle unsre Hoffnungen
zerstören. Die Unruhen auf der Flotte sollen nicht so unerheblich
gewesen sein. Ob
Thorbecke auch
ein Opfer des Mißmutes der Mannschaften über das Wohlleben der
Offiziere geworden ist?
Rickert hat den Ruf nach
Wien erhalten. Ich glaube nicht, daß er annimmt.
Sobald aber dieser Fall eintritt, müssen wir eingehend beraten u. ev.
handeln. Denn das Klima ist hier für mich geradezu eine
Beeinträchtigung des Lebens. Andrerseits freue ich mich an dem Ausbau
des Seminars, das jetzt so reiche Mittel hat und aus dem ich, wenn
ich eine energische Regierung hätte (die ich nicht habe), ein
sächsisches „Zentralinstitut für Erz. u. Unterricht“ machen könnte.
Das Studentenmaterial ist jetzt schlechter als je, und auch dies wäre
wohl in
Heidelberg besser.
Wie geht es
bei Weises? Von
Georgs Arbeiten
liest man öfter in der Zeitung. - Von
Oesterreich höre ich
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| garnichts. Das
bringt mich auf die Weihnachtsfrage. Da ich dies Jahr nicht verbannt
bin, quäle ich Dich nicht mit dem Besorgen. Aber vielleicht hast Du
Einfälle für
Heinz,
Ursula,
Caecilie? Denn mir fällt nie so was ein.
Hoetzsch hat auf der Reise nach
Cassel seine 2 verloren. Konfisziert als
Kriegsgewinn?
Wo der unselige
Hofmann ist, weiß ich nicht.
Für das Licht danke ich noch besonders. Man freut sich schon,
so etwas mal wieder zu
sehen. Aber das
Licht, das Du mir hinsichtlich der Staatsidee aufstecken wolltest,
das hat bei mir schon gebrannt. Natürlich ist ein Staat wirksam nur
als Kultur
hülle, aufgebaut auf einer
Lebenstotalität. Ich will doch mit meinen Abstraktionen nur sagen:
wer den Staat will, muß eben sein Specificum wollen: Macht, und
in dieser Form alles andre; aber nicht eine
Liebesgemeinschaft oder einen Handelsverein. Und wer Wissenschaft
will, darf nicht Kunst verlangen oder Religion, sondern deren Gehalt
eben in der
Form des Wissens.
Geschichtliche Ereignisse sind nie abstrakte Vorgänge, sondern immer
totale. Die Abstraktionen
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| sind wissenschaftlich, zum Zweck
des Verstehens. Daß das
Ethische erst in
der Konkretisierung entsteht, habe ich Dir doch selbst in
Berka auf der Bank auseinandergesetzt.
Nelly Pelargus war neulich
hier. Sie ist gesund und zufrieden. Ich soll durchaus etwas für
Ferd. Avenarius schreiben, über
den "Aufstieg". Und für die Int. Monatsschr. über "
Kerschensteiner", und für die
"Fortbildungsschule" auch etwas. Kurz, ich habe Bestellungen genug,
trotz der Papiernot.
Das ist ein sehr langer, aber auch ein
sehr schlecht geordneter Brief. Habe Nachsicht. In meinem Kopf sieht
es eben nicht besser aus.
Noch einmal danke ich
Dir für alle Gaben und Mühen und bin mit herzlichen Grüßen auch an
die
liebe Tante
Dein
Eduard.