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Leipzig, den 29. Juni
1919.
Liebste Freundin!
Du
hast mir schon an dem ruhigeren Abend des 26. Juni eine schöne
Vorfeier bereitet. Ich empfing Deine lieben Blümchen, Deine
eigenhändigen Grüße und den Schattenriß, um
den ich die
liebe Tante immer
beneidet habe, der mich nun an das traute Zimmer erinnern wird, und
mit dem ich, symbolisch betrachtet, alle
Schatten des Augenblicks von Dir fortgenommen
haben möchte. Am nächsten Abend kam dann noch Dein Kartenbrief, der
mir beruhigende Nachrichten über den Fortschritt Deiner Genesung gab.
"Fahre so fort."
Der 27. war einer der arbeitsreichsten Tage.
8-9 Kolleg, 9-10 Examen (mit Durchfall.) 10 ½ - 11 ½ statt
Seminarvorbereitung 2 Besuche, 12-1 Doktorexamen (Nr. 1), 1-3 Mittag
in
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Stadt Freiberg mit dem
Famulus. 4-6 Vorbereitung,
dazwischen
Frl. Kiehm. 7-9
Seminar. (gleichzeitig das Plenum der ord. Prof. versäumen müssen.)
Um 10 kam ich zum Lesen meiner Briefe. Gestern habe ich gleich 15
beantwortet.
Die Briefe, von denen ich später wohl einige mitteilen werde,
waren diesmal wahrhaft tröstlich. Jeder ist durch das Elend innerlich
eine Stufe gehoben. Ich sah doch so viel Echtes, daß ich daraus den
besten Glauben für unsre Zukunft
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Biermann begnügte sich mit 1
Ansichtskarte. Von der Familie (bis jetzt) kein Wort. Er jammert
immerzu u. gefällt mir wenig.
Schreibe mir doch nun einmal, wenn es
Dich nicht anstrengt, wie Du Deine Rekonvaleszentenzeit denkst. Hier
ist kein Luftkurort u. keine gute Verpflegung. Sonst würde ich raten:
mache Dich zum Logirgast der
Frau
Direktor. Aber für
Dich, und das ist
die Hauptsache, wäre etwas Ländliches besser. Die Wohnung könnte
vielleicht
Walther brauchen?
Wann denkst Du, daß Du den (erwiesenermaßen nahrhaften)
Möncheberg verlassen kannst?
Bei mir
geht es mal wieder über die Kräfte. Morgen muß ich 3 Stunden lesen!
Jeden Tag 1 Examen, Sonnabend den 12. Juli 13 Probelektionen, zur
Hälfte für
Jungmann, halb für
mich.
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| Ich will mir Mühe geben, daß ich die 4 Wochen noch
durchkomme. Manche möchten mich zum Rektor. Ich habe erklärt, daß ich
dafür nicht die Kräfte habe. (Ev. ja auch
Berlin!)
Verzeih mir, mein Liebes, wenn ich
in den nächsten Tagen nicht zum Schreiben komme. Es geht beim Willen
nicht nach Lage des Stundenplans. Mein Kolleg, das gut gelingt,
erfordert nämlich jetzt besonders viel Arbeit.
In mir rumort
eine Idee, die vielleicht falsch, vielleicht sehr gut ist. Später
werde ich sie Dir mitteilen. Heute bitte ich Dich nur, recht bald
gesund zu werden. Wenn es Dich nicht anstrengt, schreibe mir
manchmal. Ich grüße
den Onkel
und
Walther; vor allem aber
Dich mit innigem Dank für Dein Dasein, das auch im begonnenen
Lebensjahr mein höchstes Glück sein wird.
Innigst
Dein
Eduard.
Heyse hat in
Bern summa cum
laude promoviert u. schreibt rührend schön.
[li. Rand] Heut Nachm. bin ich mit
Eulenburg zusammen. Sonnabend
wohl Dresden.