[1]
|
Leipzig, den 18. Juli
1919.
Mein Liebes!
Es freut
mich, daß Du wieder daheim bist. Wenn die Räume Dir schmerzlich leer
erscheinen, dann denke daran, daß ich auch dort war und immer noch
dort weile und Dir nahe bin. Gern las ich, daß man Dir den Einzug
verschönt hat. Und besonders will ich froh sein, wenn die letzten
Schmerzen sich verloren haben, so daß Du ganz wieder - nicht die
Alte, sondern die Junge bist. Die Familie eines Kollegen liegt
ebenfalls an schwerer Fischvergiftigung; es scheint jetzt leider
nichts Seltenes und dauert überall lange.
Lange dauert auch
dieses Semester. Eigentlich kann ich schon längst nicht mehr. Ich
schleppe mich nur noch bis zu dem Schluß, der offiziell heut in 14
Tagen erfolgt; freilich ist dann bis zum 6. noch
[2]
| allerhand
zu erledigen. Wären normale Zeiten, so würde ich vorschlagen, daß wir
zusammen eine Erholungszeit verleben. Aber wo? Zum Experimentieren
habe ich nach dem vorigen Sommer keinen Mut, und Du wirst außerdem
mit der Auflösung des Haushaltes zu tun haben. Vielerlei Praktisches
über Deine und meine Zukunft wäre zu besprechen. Deshalb ist mir so
durch den Kopf gegangen, ob Du bei schnellem Fortschritt Deines
Befindens nicht mit dem
Vorstand, der ja bei Dir durchreist, auf einige
Tage hierherkommen könntest. Aber ich fürchte, daß das noch verfrüht
ist. Und Du darfst natürlich nichts Anstrengendes unternehmen, ehe Du
wieder ganz frisch bist. Logieren könntest Du wohl bei
Frau G. Ein Balkon mit
Ruhegelegenheit ist auch hier, und ich würde ja zunächst nur zu den
Mahlzeiten frei sein. Auch an eine kurze Begegnung in
Coburg oder
Bamberg
habe ich gedacht. Du weißt ja, daß ich versprochen hatte, wieder
[3]
|
nach
Partenkirchen zu gehen, und es wird
(wenn keine Streiks kommen) auch ganz rationell sein. Denn ich muß
vor dem Winter wieder ganz auf neu gearbeitet werden.
Deine und
meine Zukunftspläne müssen jedenfalls erwogen werden.
Hier arbeite ich mich kaputt, im Dienste
einer täglich radikaleren Regierung, die die Universität
Leipzig allmählich ruinieren wird. Vorgestern
fand ich nun auf meinem Tisch die Nachricht, daß die Berliner
Kommission mich ohne jedes Zögern an erster Stelle vorgeschlagen hat;
daneben aber lag die erneute, gründlich motivierte und fast rührende
Bitte, nach
Wien zu kommen. Ich würde, wenn
Berlin scheitert, Wien wohl annehmen. Denn
dort würde ich weniger an dem Niedergangsgefühl leiden als hier. Und
später, wenn es aufwärts geht, käme ich zurück. - Aber auch noch eine
dritte Kombination kommt in Frage. Neben mir pari passu ist für
Berlin
Heinrich Maier
vorgeschlagen. Sollte er wider den Wunsch der Fakultät genommen
werden, so wird
[4]
|
Heidelberg frei,
und ich könnte mich "bewerben".
Vielleicht sind deshab hier in der letzten Zeit so manche Ärgernisse
gekommen, damit ich mich leichter loslöse. Ich fühle, daß es sein
muß. Seit einigen Wochen ist dieses Gefühl ganz deutlich. Das Schöne,
was ich hier hatte und habe, ist deshalb nicht ausgelöscht. Aber der
Betrieb wächst mir hier über den Kopf. 7 Jahre habe ich den Stein
gewälzt, den
Meumann nach 1
Jahr liegen ließ.
In
Berlin scheint zum
15. viel Besuch gewesen zu sein:
Fräulein Lehmann,
Mai,
Häuseler, 3 Damen aus dem Geschäft, das
nun seit 20 Jahren nicht mehr existiert.
Für heute nur diese
Erwägungen. Werde gesund, ist mein Hauptwunsch. Wie geht es
dem Kinde aus
Hofgeismar? Meine Grüße an
den Onkel, und vor allem an
Dich, mein Armes und Liebes, hoffentlich bald nur noch "mein
Liebes".