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Partenkirchen, den 18. August 1920.
Liebste Freundin!
Deine gestern
erhaltenen lieben und mir sehr erfreulichen Zeilen beantworte ich auf
dem sonnigen Balkon, freilich mit der schlecht leserlichen
Nachmittagshandschrift. Mein Herz ist voll
von Dank, für alles, was Du inzwischen wieder für mich getan hast.
Jedesmal, wenn ich den Regenschirm aufspanne, was leider nicht allzu
selten geschieht, freue ich mich von neuem Deiner heilenden Kunst. Du
ahnst nicht, daß ich einen Tag in schrecklicher Sorge um Dich war.
Hier verbreitete sich am Sonntag das Gerücht, daß in
Berlin der Bolschewismus ausgebrochen sei und daß
in
München ähnliches bevorstehe. Daher sei
die Partenkirchner Einwohnerwehr alarmiert. Den ganzen Sonntag stand
ich unter dem Druck dieser Nachricht, die ich auch zu
Dora Thümmel trug, bis sich am
Montag herausstellte, daß alles ein Bluff war. Seitdem aber ist es
mir doch beunruhigend, Dich in Berlin zu wissen. Wie lange willst Du
denn bleiben?
Vor einigen Tagen erhielt ich das Programm der
Kieler Herbstwoche und sah daraus, daß ich dort eigentlich
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schon am 16.IX. reden sollte. Daraufhin habe ich kurzerhand
abgeschrieben. Mein Aufenthalt hier ist also von
dieser Seite nicht beschränkt, freilich von der
Geldseite so sehr, daß ich ohne fertiges Werk hier nicht länger als
Mitte September bleiben dürfte.
Der
Leipziger Dekan, dessen 2. Karte
ich Dir beilege, erbat meine Hilfe, da
Litt schwanke, ob er annehmen solle. Er hat aber
inzwischen doch angenommen und mir einen sehr schönen, inhaltreichen
Brief geschrieben. Darin steht u.a., daß er sofort bei seiner
Rückkehr nach
Bonn einen Artikel der
Leipziger Lehrerzeitung nachgesandt erhielt, worin unter der
Überschrift: "Wer soll Sprangers Nachfolger werden?" die schwersten
Tadelssprüche gegen ihn geäußert und gesagt wurde, daß die sächs.
Lehrerschaft sich mit dieser Wahl niemals abfinden werde. Du siehst,
die Kerle beanspruchen jetzt schon das Besetzungsrecht an den
Universitäten.
Nieschling wohnt
Potsdam, Karlstr.
8. Tel. Potsdam 381. Vormittags Tel. Potsdam 70, Bücherei! N.
heranrufen lassen.
Susanne
Conrad habe ich noch nicht geschrieben. (
Landhausstr. 49.
[über der Zeile] Gh) wenn es Dir
recht ist, werde ich ihr schreiben, daß Du bereit wärest, ihren
Besuch zu empfangen, da sie diesen Wunsch geäußert
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| hätte.
Dora Thümmel wohnt jetzt im
Pflegeheim Schweizerhaus. Sie kann immer noch
nicht gehen, obwohl es besser geht, und langweilt sich furchtbar. Du
würdest ihr eine große Freude bereiten, wenn Du aus m. mittleren
Bücherregal oberste Fachreihe links
Ziegler, Gesch. d. Pädagogik (aber 2., nicht die
auch vorhandene 3. Aufl.) als Päckchen (1 M?) schicken wolltest. Nur
müßtest Du dann die Güte haben, es möglichst bald zu tun, da sie ja
hoffentlich (von ihr aus gesagt) nicht mehr lange bleibt.
Auch
für mich ist es dies Jahr etwas eintönig hier. Die Gegend
interessiert mich garnicht. Nicht einmal zum Kaffee kann man in ein
andres Haus gehen, weil es zu teuer ist. Die Mitgäste sind
uninteressant. Und der Gesprächsstoff reicht auch nicht
immer. Aber ich bin schon nicht mehr so
müde wie anfangs, obwohl immer noch recht herunter. Meiner Arbeit
sind alle diese Umstände recht günstig. Ich denke viel u.
konzentriert, immer um dieselben Punkte herum, wie es sein muß.
Geschrieben habe ich schon 76 Quartseiten; in dieser Woche wird der
1. Teil fertig. Der 2. sind die eigentlichen Lebensformen. Der 3. die
Ethik. Der 4 die Mischformen u. Zusätze. Der 1. Teil ist der
schwerste. Wie es dasteht, kann es für den Druck noch nicht bleiben.
Es ist aber ein guter Leitfaden,
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| der nur umgearbeitet zu
werden braucht. Manche Punkte freilich sind mir noch nicht klar
genug. (Jetzt ist es plötzlich der Ökonomische.) Aber täglich
entdecke ich doch neue Gesichtspunkte, die sich durch Übereinstimmung
mit dem Gesamterfolg als richtig erweisen. Die Sache ist eigentlich
in den Grundzügen ganz einfach, und doch so absolut neu, auch
gegenüber 1914, daß ich immer noch nicht daran glauben kann, daß
gerade ich dieses Rätsel lösen durfte. Hoffentlich hält jetzt die
ruhige Zeit u. die Arbeitslaune an. Ich halte alle Störung möglichst
fern. Sollte ich nicht
genau zum 31.
schreiben, so halte es meiner Arbeitskontinuität zugute. Eigentlich
kann ich nämlich nichts lesen u. nichts schreiben, während ich
produktiv arbeite.
Die polit. Entwicklung ist sehr
eigentümlich, aber mir nicht ganz angenehm. Arbeiterherrschaft ist
ebenso Untergang wie die Erfüllung von Versailles.
Und den Deinigen meinen Dank für die Aufnahme m. Utensilien.
Johanna Wezel schrieb
wieder allerhand von Unfrieden mit
Frau Dr. Sachs u. ½ Jahr Fortbildungsurlaub. Ich
habe ihr die Leviten gelesen. Jetzt heißt es: gerade Linie.
Hoffentlich habe ich nichts vergessen. Ich bin in treuer Liebe stets
Dein Eduard.
[li. Rand] Riehls schreiben sehr
befriedigt von Graal, sind aber schon von
dort fort!?!