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Berlin, den 24. April 1921.
Mein
Geliebtes!
Ein "beschäftigungsloser" Sonntag
Nachmittag gibt mir Gelegenheit, so recht über den Rückgang meines
Menschen nachzudenken. Heut vor 14 Tagen landeten wir wohl atemlos im
Kümmelbacher. Es ist seit meiner Rückkehr
eine merkwürdige Lethargie in mir, als ob ich eigentlich noch
garnicht hier wäre. Ganz gegen meine Gewohnheit verträume ich Minuten
und Stunden, ohne doch etwas schönes zu träumen. Diese erste Woche
hatte nichts Aufmunterndes in sich. Die 2 Vorträge vor den 40-50
Leuten verliefen ziemlich reizlos für beide Teile; Mittwoch hörte ich
von
Frau Biermann ¾
Stunden Greifswaldionen, ohne daß ich
von mir auch nur 1 Satz hätte sagen können. Donnerstag erhielt ich in
der Philologensitzung von der schulpolitischen Situation einen recht
ungünstigen Eindruck. "Es geht wieder los". Freitag Nachm. ging ich
mit
Susanne den
"Lebensformenweg" über
Ravensteiner Mühle an
den
Müggelsee. Aber die Natur sprach nicht zu
mir, und zeitweise war mir, als hätte ich überhaupt niemanden neben
mir. Nach der Heimkehr raffte ich mich zu 6 Seiten über "Die
Jugendbewegung und -
Goethe"
auf, die Du später lesen wirst. Gestern früh kam endlich das lange
erwartete Packet, dessen Schicksal mich schon
beunruhigt hatte. Zu meiner Orientierung würde es mich interessieren,
ob es einge
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|schrieben oder als Wertpacket ging. Ich danke für Deine Mühen, für den
eßbaren Teil und - für den symbolischen Tempel.
Ja,
merkwürdig, in meiner Untätigkeit las ist oft stundenland in den
prächtig gebundenen "Lebensformen", als ob es das Buch eines anderen
wäre. In I,6 ist der Gedanke nicht klar herausgekommen, überhaupt ist
vieles nicht scharf genug. Es ist ein seltsames Buch, das ich immer
wieder mit einer Symphonie vergleichen muß (doch nicht mit einem
Tempel), weil es einen mächtigen Strom wiederkehrender Grundmotive
darstellt. Aber ich glaube – von seinen logischen und künstlerischen
Mängeln ganz abgesehen - daß es schwer verstanden werden wird, weil
dahinter ein Umfang der Besinnung und eine historische Anschauung,
eine Vertiefung in Erlebtes liegt, die heut niemand mehr zu
reproduzieren fähig sein wird. Mit diesem Buch, mein Liebes, will in
der Tat gelebt sein; das Lesen tut es nicht. Ich denke schon daran,
ob ich nicht einige Strukturanalysen als Beispiele irgendwo folgen
lassen sollte. Übrigens ist es merkwürdig, daß
Spengler in einem Aufsatz in
den Preuß. Jahrbüchern, den ich in s. Auftrage erhielt und der
jungenhaft schlecht und frech ist, doch darin mit mir übereinstimmt:
man muß sich das Gefühl für geistige Physiognomik, für morphologische
Verhältnisse stärken. Das ist dasselbe, was ich Struktur nenne, (mit
Dilthey), nur daß ich mir
einbilde,
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| die Strukturelemente (gleichsam die Organe des
Organischen am Geiste) entdeckt zu haben, die Dilthey ahnte und die
Spengler nur gelegentlich
trifft. Weder
Riehl noch
Heinrich Scholz noch
Werner Jaeger werden das Buch
verstehen. Wer wird es eigentlich in seiner
Absicht verstehen? unter den 32, die es von mir
bekommen, außer Dir höchstens
Kerschensteiner und vielleicht
Litt.
Aber weiter in der
Wochenchronik: Gestern früh goß es in Strömen. Mit
Nieschling traf ich schon um 5
am Bhf. Zo zusammen. Er hatte eine glückliche
Gabe, mir allerhand Ungünstiges über mich zu berichten, das er gehört
hatte, z. B. daß man über den Spenglervortrag enttäuscht gewesen sei,
weil man gehofft hatte - -
Spengler selbst halte ihn. Der ist nun mal der
Große unsrer Zeit. U. s. f.
Potsdam, von
einer kühlen Frühlingsschönheit, stand noch ganz unter den
Nachwirkungen der Bestattungsfeier. Die Folge war dann, daß ich im
Saal, nachdem ich Nieschling in s. Wohnung mit den Ungemütlichkeiten
m. Lampenfiebers lästig gefallen war, etwa 40-50 Leute vorfand. Ich
glaube trotzdem gut und wirkungsvoll gesprochen zu haben. Daran
schloß sich - bei schlechter Leitung - eine lange und gehaltlose
Diskussion bis 11 Uhr. Ich erreichte im Laufschritt meinen Zug 11.22
und kam um ½ 2 glücklich ins Bett. Obwohl ich lange genug schlief,
bin ich heut doch wie im Dämmerzustande.
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Um 11 kam
Riehl, um mich "auszuladen" für
heut. Er war vergrämt, wie immer, und es tut mir weh, daß ich ihm
nicht aufhelfen kann. Wenn er doch wenigstens den pour le mérite
bekäme!
Morgen habe ich zuerst starken Dienst: denke Dir, daß
ich noch keinen Fuß ins Seminar gesetzt hab, seit ich hier bin.
Abends beginnt das Zentralinstitut; aber ich bin absolut lustlos
dafür! Habe noch keinen Blick hineingetan. Dienstag ist mal wieder
Termin im Mieteinigungsamt, was auch nicht gut für die Stimmung ist.
Donnerstag beginnt das eigentliche Semester, um bald wieder
aufzuhören. Am 21. Mai ist Prenzlau. Dann
aber werde ich in Sondervorträgen sehr zurückhaltend sein.
Becker ist Minister, aber
malgré lui, wie ich fühle; und er wird sozialdemokratischer regieren,
als wenn die Sozialdemokraten selbst das Ministerium hätten. Immerhin
lese ich eben, das
Marcks nach
Berlin gerufen ist, der vor 1 Jahr für
Bonn (als veralteter Typ) abgelehnt wurde. So
sind die Besetzungen auch nur eine Frage der zufälligen
Parteikonstellation - für Marcks diesmal zum
Glück.
Verzeih diesen "flötigen" Brief, mit dem ich doch
wenigstens unsre Gespräche fortsetzen wollte. Ich werde mir von
morgen an wohl einen Ruck geben. Sonst kommt ein faules Semester
heraus.
Wasche nicht zu viel, sondern genieße den Frühling im
Gedenken an mich, wie ich umgekehrt mit allem Fühlen bei Dir bin.
Dein Eduard.
[Kopf] Besten Dank für
Klages, der anscheinend sucht,
was ich habe.