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2. Juni 1922.
Mein
Liebes!
Morgen ist ein Gedenktag für uns, den
ich im stillen mit Dir begehen werde. Darf ich Dich nun bitten,
vielleicht am 2. Feiertag früh hierher abzureisen? Da am 2. Feiertag
keine Post bestellt wird, erwarte ich Dich zu dem Abendzug (Dzug),
der über
Frankfurt nach 10 Uhr am
Anhalter Bhf eintrifft, an der Sperre. Den
Hausschlüssel werde ich vorher durch
Susanne bei
Ruges
erbitten lassen.
Es kann sich nur noch um Tage, vielleicht
auch nur um Stunden handeln. Das kräftige Herz leistet viel
Widerstand, aber die Nahrungsaufnahme ist fast gleich Null;
Schmerzen
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| werden wohl kaum empfunden. Oft
Bewußtseinstrübung und meist Apathie. Aber er erkennt mich noch und
bezeugt mir jedesmal seine Liebe, indem er planvoll jede Hand küßt.
Sprechen kann er nur schwer, und es ist meist nicht zu verstehen.
Ich habe bisher alles tapfer bewältigt: jeden Tag um 3 im
Krankenhaus, und dabei vollen Dienst bis in die Nacht. Aber nun sind
Knoten aufgetreten, deren ich allein nicht mehr Herr werde. Es muß
über die Wohnungsfrage beraten und beschlossen werden. Vorgestern ist
der Student freudig eingezogen und
hat sich auf den neu gekauften Bettüchern (925 M.) gebettet. Gleich
in der ersten Nacht aber haben sich im Vorderzimmer Wanzen gezeigt.
Daß sie
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| hinten noch waren, ist - mindestens kein Wunder.
Abgesehen davon, daß ich nun den Studenten wahrscheinlich mit
Entschädigung und Entschuldigung wieder hinauskomplementieren muß,
fällt der Plan fort, selbst in die Wohnung zu ziehen. Heute aber ging
mir der Kontrakt zu, für das nächste Jahr, unter den Bedingungen des
Reichsmietengesetzes. Wie die Dinge liegen, empfiehlt sich wohl, die
Möbel auf den Speicher zu stellen und eine Professorenwohnung
abzuwarten oder zu Oktober*
[Ende der Zeile] * (d. h. mit
dem Suchen anzufangen.) eine andre zu suchen. Das Projekt
Tante Grete könnte jetzt ev.
unter anderen Voraussetzungen neu aufgenommen werden.
Jedenfalls brauche ich zu alledem Deine Nähe und Deinen Rat. Ich
denke, daß
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| wir in 14 Tagen alles provisorisch eingerichtet
haben, so daß Du Deine Arbeit nicht länger zu unterbrechen
brauchst.*)
[li. Rand] *) Es geht dir gewiß jetzt recht
schlecht. Wenn Du aber jetzt nicht gut unterbrechen kannst, so
werde ich Dir unmittelbar nach dem Ableben telegraphieren. Es kann ja
immerhin auch noch einige Tage dauern, die Du dann gewännest.
Bring nicht zu schweres Gepäck mit. Und reise ohne zu große
Anstrengung. Es kommt auf ein paar M nicht entfernt an. Hier fliegen
seit 10 Tagen die Tausendmarkscheine.
Für heute
nur dies. Viele Grüße an
unsre
Freundin. Und innigen Dank für alle neuen Opfer.
Beruflich geht alles gut.
Innigst
Dein
Eduard.