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Charlottenburg 4, Pestalozzistr.
9a.
Den 23. Oktober 22.
Mein innig Geliebtes!
Nach einer Stunde
ermüdenden Herumgeturns ist es mir endlich gelungen, Deine Lampe, mit
der niemand umzugehn versteht, soweit in Ordnung zu kriegen, daß ich
notdürftig sehen kann. Es ist der erste Abend in der neuen Wohnung
(denn gestern war ich bei
Susanne.) Ich will Dir einiges erzählen. Doch zuvor
laß Dir danken für die liebe Sendung, die mich hier empfing, als ich
gestern früh "endgiltig" hierhin übersiedelte. Was ich beginne,
geschieht in Gemeinschaft mit Dir. Deine Nähe zu fühlen, ist mir
Trost in jeder Einsamkeit. Und wo wir auch sind, verbindet uns "unsre
Insel", oben am See wie unten
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| am
Neckar, wie hier.
Alle Zimmer, mit Ausnahme
des Berliner Zimmers, sind jetzt "im ganzen" in Ordnung. Dabei hat
sich nun die Merkwürdigkeit herausgestellt, daß mein Arbeitszimmer
unsagbar klein ist. Der Schreibtisch steht, wie früher der andere,
nur mehr ins Zimmer hinein. Mir gegenüber die
ganze Wand ist mit den 4 Regalen in eine große
Bücherfront verwandelt, die aber beängstigend nah an den Schreibtisch
heranrückt. Rechts unmittelbar neben der ausgezogenen Platte beginnt
der Tisch. In s. Fortsetzung steht der große Aktenschrank unter der
Uhr. Hinter mir steht das Sofa, in der Fensterecke neben ihm der Turm
Kasten, die wir zusammen gekauft haben. Der Bücherschrank u. der kl.
Aktenschrank in der Ecke - zwischen beiden Türen. 2 Sessel u. das
Büchergestell
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| und 4 Stühle - es bleibt fast gar kein Raum.
Dafür hat das Schlafzimmer viel Raum. Ich beschreibe von der
Balkontür aus, wenn ich hinaussehe: links erst das helle
Vertikeau, dann das Bett längs an
der Wand und der Waschtisch. Vor der Tür nach der Treppe, der braune
große Schrank, der mit einem Schrubberstiel in einen Kleiderschrank
verwandelt ist. Die Kommode vor dem unreparierbaren Loch im Parkett,
der alte Kleiderschrank wie bisher und ebenso die Chaiselongue, die
durch eine aufgelegte Matratze und 2 Decken ganz brauchbar geworden
ist.
Es fehlen: ein Arbeitszimmer Teppich u. Beleuchtung; denn
die Krone muß erst gereinigt werden. In jedem Fall hängt sie
zwischen beiden Tischen.
Keine Uhr ist in Gang zu bringen; will es
zunächst mit Petroleum versuchen. Ein Linoleumvorleger für
Waschtisch
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| muß gekauft werden.
Die Küche blitzt und
ist sehr hübsch, der alte Aufspültisch ist zersägt worden. Dadurch
ist mehr Raum. - Badestube - hu! Zimmer v.
Frau E. habe ich im Endzustande
nicht gesehen, schien aber auch ganz gut. Die Hausklingel
funktioniert
garnicht; Treppenbeleuchtung
auch vor 8 fehlt ganz.
Mit einem Wort: es ist u. bleibt eine
Halbheit. Und es ist natürlich gekommen, wie ich wußte: Aus den
Wänden u. Möbeln starrt mich etwas "Belastetes" an, das mich, solange
ich nicht über u. über in Arbeit stecke, nicht zu dem Gefühl des
Heimischseins kommen lassen wird. Ich habe so viel wie möglich von
Deinen Bildern aufgehängt. Die Stille ist
bedrückend (gegen den Kurfürstendamm) und
schon jetzt am 2. Tag plagt mich eine Monotonie, die aber vielleicht
im Semester besser wird.
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Der Verlauf war so: Punkt
8 am Mittwoch war ich mit
allem Packen
fertig. Mit ½ Stde Verspätung kam der Wagen mit - 2 Mann (einschl.
Kutscher), von denen der eine sich gleich krank meldete u. durch
einen andern ersetzt wurde. Die beiden waren tüchtig, brauchten aber
natürlich 3 ½ Stunden zum Aufladen. Um 2 waren sie schon vor mir in
der
Pstraße u. um 6 endlich waren sie fertig.
(6000 + 600 Trinkgelder.) 2 Studenten hinderten mich unter dem
Vorwand des Helfens an dem sachgemäßen Einräumen. Donnerstag u.
Freitag habe ich die Bücher eingestellt, erschwert, weil das 5. Regal
entzweigegangen war. Donnerstag Nachm. las ich 2 Stunden. Freitag
Abend bis 1war ich mit
Goldbeck
bei 1 ½ Fl. Rotwein bis 1 zusammen. Sonnabend vorm wurde mein Zimmer
fertig. Abends spielte ich zum 1. Mal
Frl. Guttmann Klavier vor u. dann mit ihr 1 Symph.
von
Mozart u. 1 von
Beethoven excellent 4 händig zu
beiderseitigem
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| großem
Genuß. Gearbeitet habe ich außer der Korrespondenz fast
nichts. Sonntag um 10 begleitete mich Frl.
G, mit der der Abschied wirklich
gut war
(ich schenkte ihr für 2000 M
Dehio Bd. 1 u. 2.) bis Bhf. Tiergarten. Der Diener
des philos. Seminars hängte dann Bilder an u. organisierte das
Nötigste sehr geschickt. (362 M.) Die Malerrechnung betrug 12 500.
Gestern Nachm. war ich mit
Susanne via
Heinersdorf in
Pankow (Linder), abends bei ihr.
Frau Ewert kocht sehr gut u.
zeigt überwiegend erfreuliche Eigenschaften. Wir werden uns schon
verständigen. Aber das erste Essen im elterlichen Hause mit der alten
bürgerlichen Vornehmheit kam mir fast wie ein unerlaubter Luxus vor.
Heut vorm. habe ich wegen der katastroph. Preissteigerung für 2500 M
Vorräte in der Wirtsch. gem. gekauft. Nachm. hatte ich mit
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Becker eine mich befriedigende
Stunde im Min. Wir sind über die Formen der Lehrerbildung jetzt
einig, im Sinne meines Vorschlages (so auch der
Minister.) Aber der
Finanzminister will
unter keinen Umständen an dieses Projekt
heran - er will nicht einmal das Abitur für die W.-Sch Lehrer
bewilligen. Davon später mehr. Heut Abend wollte ich arbeiten, konnte
aber nicht genug sehen.
Riehls hatten mich
zu gestern abbestellt, während gleichzeitig ich abgesagt hatte. Diese
Epoche ist nun also vorbei, und ich komme mir deshalb doppelt
vereinsamt vor.
- Eben habe ich ½ Stunde Deinen lieben Brief
gesucht, den ich in m. Schreibtisch gestern sorgfältig verschlossen
habe. Er ist nicht zu finden, trotz aller Mühen. Natürlich ist er da,
aber wer weiß, wo
ich er sich
zwischen geschoben hat. Heut
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| Abend ist es aussichtslos.
Ich kann deshalb nur sagen, daß ich an Euren gemeinsamen
Unternehmungen (Busch, Mittelstandsverkauf, bes. Insel, die Du so
wunderschön aufgefaßt hast) innigst teilgenommen habe. Wir werden
zusammen auch über diesen schweren Winter
kommen.
Sus. hat eben aus der
Kurf. str. das Paket geholt. Ich soll Dich
vielmals grüßen. Diesmal war
Hilde krank;
die beiden älteren sollen gesund sein. Das mit
dem Doktor ist ja seltsam. Und die neue Stütze
also wandelt sich so schnell!
Der Dr.
bezahlt doch weiter? Oder entsteht dem
Vorstand daraus ein Nachteil?
Frau Lou Andreas habe ich kurz
besucht u. fand sie gealtert, mit Zügen starken Leidens, ohne
Lebendigkeit, in wenig anziehender Gesellschaft. Vielleicht gehe ich
noch mal hin. Für heut muß ich schließen. Ich habe zu allem
Zahnschmerzen. Gut Nacht, mein innig Geliebtes! Morgen früh soll
dieser Dröselbrief fort.