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Heidelberg. 31. Okt. 1922.
Mein
geliebtes Herz.
Sorge nicht, es könne in diesem
Brief Unerfreuliches stehen - ich habe Dir nur Gutes zu melden. Wie
die Lösung einer schweren Krisis war es, daß ich endlich die stille
Qual meines Lebens vor Dir ausschütten konnte. Ich glaube, ich wäre
sonst ernstlich krank geworden. Und wir sind doch nun einmal durch
fast zwanzig Jahre so miteinander verwachsen, daß wir alles zusammen
tragen müssen. Jetzt ist die unerträgliche Spannung von mir genommen,
mein inneres Schicksal ruht in Deinen Händen u. wie Du auch urteilen
magst, ich werde Erlösung in Dir finden, es wird mir Gottesurteil
sein. - Du wirst es wohl leider störend empfunden haben, daß dies
alles, ohne daß ich es wollte, wohl gerade in die ersten Semestertage
traf. Aber Du weißt ja: "wir sprechen von unserm Herzen unsern
Plänen, als wären sie unser, nur es ist doch eine fremde Gewalt, die
uns herum wirft." Es war stärker, als ich, aber nun habe ich mich
wieder zum Gefühl meiner selbst durchgerungen.
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| Dein lieber
Brief war mir auch ein rechter Trost, nur empfand ich trotz allem
lebhaft, wieviel Unbehagen noch um Dich war. Diese lästige Su
hcherei nach meinem letzten Schreiben -
das hättest Du nicht tun sollen. Ich erwarte doch keine so "korrekte"
Antwort. Und die Lampe wollte nicht brennen? Sie hatte doch sonst ein
so gutes, mildes Licht. Der Ring, auf dem Glocke u. Cylinder ruhen,
läßt sich heben u. durch einen Hebel stützen, der seitlich angebracht
ist, ungefähr so aussieht
<Skizze des Ringes> u.
sich nach rechts drehen läßt. Man stützt den Ring beim Heraufstellen
am besten etwas mit der linken Hand. Dann sieht man innen beide
Dochte, kann sie glatt machen u. anzünden.*
[li. Rand] *u.
den Ring wieder herunterlassen. Der Cylinder muß in der
Richtung der Dochte seine größte Ausdehnung haben. Dann sollte ich
meinen, müßte es brennen. Wie das Schrauben der beiden Dochte gemacht
wird, hast Du wohl gemerkt. - Es ist seltsam, wie in solchen
Kleinigkeiten meine Hülfe recht nützlich wäre. Auch mit den Uhren
hätte es sich verlohnt. Ich habe noch so gutes Öl u. werde Dir davon
schicken. Aber ob Du es
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| sachgemäß anbringen kannst -
überhaupt Zeit dafür hast?
Daß der Glanz unsrer Insel ein
wenig von der raschen Malerei widerstrahlte, hat mich sehr, sehr
gefreut. Du weißt ja von Deinem Schaffen, wie so etwas sich mit einer
inneren Notwendigkeit wie von selbst gestaltet. Ich hätte an jenem
Tage unzählige Bilder festhalten mögen. Man könnte dort wochenlang
immer neue Motive finden. -
Lebhaft versetze ich mich zu Dir
nach der Beschreibung Deiner Zimmer. Es ist sehr überraschend, daß
das rote Vorderzimmer so klein ist. Trifft Dich dann auch die Sonne
am Schreibtisch, wenn der so weit ins Zimmer hinein gerückt ist? Und
wie ists mit der Heizung? Wir hatten schon einige tüchtig kalte Tage.
Vorher hatten sich die Wälder herrlich gefärbt u. ich genoß es
täglich [über der Zeile] auf dem Wege zur Arbeit,
daß uns hier die Schönheit der Natur so in den Alltag hinein
leuchtet. Dann aber kam ein schauerlicher Sturm u. Regen, der all die
Pracht herunterriß.
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Für meine Zeichnerei fängt es
schon an, unangenehm dunkel zu werden. Sonst geht es damit gut
vorwärts zur beiderseitigen Zufriedenheit. Mit
Frl. v. Hofmann, in deren Labor
ich jetzt wieder arbeitete, bestand zeitweise eine latente
Verstimmung, ohne daß ich den Grund kannte. Es hat sich aber
gebessert. Denke Dir, sie kaufte sich Bücher:
Dante,
Fichtes Reden, Hyperion - der
ihr "zu passiv ist, aber stellenweise ganz aus der Seele spricht!"
Ein sonderbares Gemisch ist dieses Mädchen. - Für meine Arbeit kommt
es mir sehr zu Statten, daß ich einen gewissen Instinkt für das
organische Bildungsgesetz einer Sache habe. Wie ja eine Pflanze in
all ihrem Teilen denselben Formtrieb folgt, so fühle ich bei allem
Mangel an begrifflicher Klarheit doch in geistigen Schöpfungen auch
das Wesenhafte des Aufbaus. Aber vergeblich besinne ich mich darauf,
die
Rickertschen Grundgedanken
wieder zusammenzubringen. Es schwebt mir etwas vor von einer
Dreiteilung der sichtbaren u. der geistigen Welt, die aber
zusammenhangslos neben einander standen. Es ist mir garkein Bild
geblieben, während doch
Schelers vitaler
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| Mensch,
Spenglers Zusammenfassung
ganzer Geistesepochen,
Husserls
Wesens schon nur ganz bestimmte Vorstellungen von der Geistesart
dieser Männer giebt. Ich möchte sagen, sie sind schöpferisch, während
der andre betrachtend bleibt. Bei Scheler glaube ich, geht am meisten
das Gefühl mit der begrifflichen Schärfe durch u. das gerade ist es,
was Du in so hohem Maße besitzt: bei aller Tiefe der Lebenswahrheit
gewissenhafteste Treue der begrifflichen Durchleuchtung. - - Ich habe
auch die Verse wieder gefunden, die mir immer im Sinn lagen:
"Immer tiefer begehre das Menschliche rein zu
durchdringen.
Aber in seiner Gestalt laß es mir
unangerührt!"
- Das ist so unendlich bezeichnend für Deine
schöpferische Denkkraft, diese wunderbare Mitte zwischen Lebensnähe
u. ewigem Gehalt. -
Mit Bedauern vermißte ich Deinen genauen
Stundenplan. Ich werde einen Zettel einlegen u. bitte herzlich um ein
recht ausführliches Ausfüllen.
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Der
Prof. Hellpach, der mal meine
Wohnung mieten wollte, ist zum Kultusminister vorgeschlagen. Das wird
wohl nicht von langer Dauer sein. Ich bin doch froh, daß du noch
nicht in den Vordergrund der politischen Bühne getreten bist, wenn Du
auch bereits Berührung u. Einfluß gewinnst. Es muß erst eine Zeit
kommen, wo für den Aufbau auch ein gesicherter Grund vorhanden ist in
festerer staatlicher Einheit. Jetzt gibt es doch nur
Zentrifugalkräfte. Der Geiz des
Finanzministers in Bildungssachen ist doch charakteristisch. Die
Finanzen sind doch nicht zu retten, aber lieber werden sie
verzettelt, für materielle Unterstützung gegeben, als daß man damit
ein geistiges Zentrum zu schaffen wagte. Denn mit dem andern hofft
man der Menge besser zu gefallen. - Wie furchtbar steigt die
Teuerung, aber auch von Tag zu Tag. Es kann einem wahrhaft schwindlig
dabei werden. Und alle Menschen werden ernster u. sorgen
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|voller. Ich höre, daß der Mittelstandsverkauf ganz enorm
beschickt wird. Hoffentlich finden sich auch Käufer. Ich gebe einen
Tafelaufsatz, einige Gläser, die dumme kleine Ampel vom Vorplatz u.
einen Fächer, lauter Dinge an denen mir nichts weiter liegt. Und man
ist doch froh, sich zu entlasten. So habe ich mich doch auch gefreut,
Dir den Teppich u. das kleine schwarze Fell zu schicken. Das
Verpacken war aber eine mühsame Sache. Ob es gut ankam? Die Briefchen
von
Dieter u.
Heinzi legte ich Dir bei.
Besonders der erste gefiel mir so gut, es ist etwas von der
liebenswürdigen Grazie unsres
Kurt darin. -
Hermann war auf einer Mädchenschultagung in
Weimar, wohnte nebst
Frau bei Weinels. Dadurch hörte
ich, daß es
Ada besser ginge,
daß sie aber immer noch viel liegen muß. Ich schrieb ihr nun auch
endlich mal.-
Heute kam ein Brief von
Frau v. Donop, sehr nett u.
teilnehmend. Die Gute bietet mir an
3 frc.
zu schicken, das seien
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| etwa 1000 M! (Ist das nicht
entsetzlich?) Ich werde sofort danken, aber freundlich ablehnen, mich
[über der Zeile] nur für den äußersten Notfall
anmelden um diese Unterstützung. Vorläufig verdiene ich ja.
Frau Ruge war dieser Tage mal
bei uns. Denke dir,
Arnolds
Blatt ist bereits verboten u. man hat beantragt, ihn auf seinen
Geisteszustand zu untersuchen! - Hör mal, könntest du nicht eine
Weckeruhr gebrauchen? Ich habe zwei, die beide gut gehen. Und dann
wollte ich Dich fragen, ob Du es ratsam fändest, die Mäntel meiner
Papiere in ein Bankfach zu tun? Die Banken wären bei einer Unruhe
doch sicher sehr gefährdet. Oder soll ich wieder zu
Lulu J.'s erprobtem
diebessicheren Schrank meine Zuflucht nehmen? - Ich weiß schon, wie
mans macht, ists verkehrt. Aber ich folge doch immer gern Deinem Rat,
denn wenn ichs auch nicht eingestehe, ich glaube ja doch, daß Du
"immer recht hast"!
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Der Dr. ist in
Konstanz,
aber noch nicht operiert. Ich bin begierig, wie sich die Sache
entwickelt. Daß er eine sehr nette Schwester hat, die ihn plötzlich
besuchte, weil er offenbar sehr alarmierende Briefe nach Hause
schrieb, hatte ich Dir wohl mitgeteilt? Seine Pension für die nächste
Zeit hat er voraus bezahlt.
Von Winters kommt öfter mal jemand
herüber, das ist immer recht nett. Denk dir,
Gertrud hat neulich Dein
Skizzchen, ehe ich es abschickte u. sagte sofort: Das ist der
Rhein bei Katsch. Es muß doch also wohl
charakteristisch sein. - Am Donnerstag geht
Aenne nach
Ludwigshafen. Mir ist die Sache zu teuer. - Statt
dessen kommt
Paula Seitz mit
ihrem Schützling zu mir. -
Abends lasen wir kürzlich den
Riehlschen Aufsatz über
Robert Mayer. Der hat mich aber
ziemlich kühl gelassen. Es schien mir - verzeih die Anmaßung des
Urteils, - ziemlich
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| oft wiederholt, u. es blieb mir
nichts als die Tatsachen, daß M. die Methode der damaligen Chemie auf
die Physik übertragen habe u. daß seine Schlüsse nicht deduktiv,
sondern induktiv seien, nicht Behauptungen, sondern Erfahrungen.
Größeren Genuß hatten wir von einem Vortrag aus dem Jahr 68 von
Pfarrer Schellenberg, der
Aenne einsegnete, über
Schleiermacher. Es ist ein
recht lebendiges Bild auf historischem Grund, das er zeichnet. - Dann
habe ich angefangen, den Oberlin zu lesen, bin aber noch nicht weit.
Er scheint ziemlich breit, aber mit psychologischer Feinheit u. Liebe
geschrieben. -
Das Schönste aber waren die beiden
Concertabende.
Busch u.
Serkin in wunderbarem
Zusammenspiel - das Orchester in begeisterter Mitwirkung.
Bach's ernste Größe kam
herrlich zum Ausdruck, aber auch
Reger wurde
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| einem wahrhaft nahe
gebracht. Das Programm war darin besonders glücklich, daß man
förmlich das Freiwerden seiner verworrenen Leidenschaft zu
gedankenreicher Fülle u. Tiefe miterlebte. -
Wie betrübend
empfinde ich doch meine musikalische Unbegabung. Nicht ein Motiv
bleibt mir im Gedächtnis, mag ich es auch im Augenblick noch so klar
empfinden.
Daß Du erst am letzten Tage den Weg zu
Frl. Guttmanns Flügel fandest,
bedaure ich auch herzlich. Es ist doch in uns beiden oft eine
übertriebene Scheu, die uns um vieles bringt, was andre unbefangen
hinnehmen. - Aber daß Euer Abschied so freundlich war, das ist gut.
Was wird sie denn nun mit ihrer Wohnung beginnen? - Schlechtes Papier
u. schlechte Feder - so ist jetzt alles. Aber ich habe eine kleine
braun u. weiß gezeichnete Feder, die Du mir geschenkt hast - fest u.
klar
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| u. kühn in der Linie wie lauter Schwungkraft - die
steckt jetzt an Deinem Bild als liebes Symbol. Denn sie ist mir
Sinnbild der heiligen Lebenskraft, die mir einzig von Dir kommt. Es
steht im Oberlin - "ich suchte den Ruhepunkt, ich
suchte mein Ich, ich suchte die Gottheit, in deren wahrer Liebe für
immer u. ewig ein Ausruhen ist." - u. das alles blüht für mich in
Deiner verstehenden Liebe. Denn nicht einen Augenblick konnte die
erdrückende Qual auch nur rühren an der Gewißheit unsrer Liebe, die
auf ewigen Grunde ruht. Und verzeih mir, wenn mein Leiden dir Schmerz
bereitete. Ich will Dir auch wieder Freude machen.
Was wird
die nächste Zukunft bringen? Aber es ist wie Du sagst: Wir werden
zusammen auch über diesen schweren Winter
kommen.
Immer mit ganzer Seele
Deine Käthe.