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Wilmersdorf, den 24. August
1923.
Mein innig Geliebtes!
Heut vor 20 Jahren muß es gewesen sein, daß ich in der
Rohrbacherstraße Dir zuerst gegenüber saß.
Ich ahnte damals nicht, daß dieser "offizielle" Sonntagsbesuch das
beglückendste Ereignis meines Lebens werden sollte. Wir feiern ja
auch den 31. als eigentlichen Gedenktag. Deshalb will ich heut nicht
vorgreifen. Aber danken möchte ich Dir für Deinen lieben großen
Brief, der mich wieder Heidelberger Luft atmen ließ, und das gehört
doch dazu. Ich bin schon froh, Dich dort zu wissen. Schöner wäre es,
wenn wir beide in Ferienstimmung dort sein dürften. Aber das ist
jetzt noch nicht möglich. Nur 2 Bitten im Anschluß an Deinen Brief:
Schreibe nicht im Halbdunkel. Du weißt, wie sehr Du Veranlassung
hast, Deine Augen zu schonen. Und dann: Laß das Silber nicht einfach
fahren. Diese "Zwangsvollstreckungsmethode" ist mir rätselhaft. Ich
nehme an, Dir sind die Löffel zugedacht. Dann mußt Du sie auch
bekommen. Das Silber ist Dir jetzt auch viel mehr von Nutzen als
Papier. Die Hauptsache ist, daß Du nicht durch dies hin u. her um
Dein Recht kommst.
Ich habe heut eine bestimmte Frage, die
ich, wenn möglich, bis Dienstag früh gern von Dir beantwortet hätte,
wenn auch nur durch Postkarte. Vorher aber eine kurze Chronik des
Wichtigsten aus meinem ziemlich einförmigen Leben. Ich war am Sonntag
mit
Susanne in
Birkenwerder u. in
Lehnitz
(Gurkenbaum.) Am Montag zu
Lores Geburtstag bei Riehls, die doch wieder sehr
verösterreichern in ihrer Lebensführung. Am Dienstag bei
Frl. Rauhut, der ich die Hemden
zum Flicken gebracht habe, und am Mittwoch war
Tante Wally bei mir zum Kaffee.
Gekauft habe ich 12 angeblich weiße Teller u. 1 Terrine, einige
Konserven u. Knorrsachen, 1 Papierstoffteppich, der eigentlich nicht
viel nütze ist. - Seit einigen Tagen bin ich trotz Bedenken für
Part. entschlossen, u. zwar so um den 5./6.
herum abzureisen.
Frau W.
drängt sehr, und für die Erholung ist es das Beste. Die Tagung in
Frkft ist von anderer Seite in Frage
gestellt. Ich habe aber gedrungen, daß sie stattfindet.
Nun
der Hauptbericht: Jeden Vormittag, mit Ausnahme von Mittwoch, wird
geschrieben. Über 200 Quartseiten = 5 Kapitel = ½ des Ganzen liegt in
brauchbarer Redaktion vor, die
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| freilich noch verbessert
werden muß. Gleichviel, ob es ein gutes oder ein schlechtes Buch
wird: Es wird ein Buch, wie es (abgesehen von
Stanley Halls formloser
Adolescence) in der Weltliteratur nicht existiert: Gemälde eines
Lebensalters, die Lebensform der Jugendzeit. Manches macht mir noch
Kopfschmerzen, Vieles
könnte viel
gründlicher behandelt werden. Aber im ganzen ist die Frucht auf, u.
sie soll noch dies Jahr in Druck, obwohl viele Verleger das Drucken
einstellen. Zur Not hätte ich den
Keyserlingkverleger, der um mich wirbt.
Nun
die Frage: Es gibt jemanden in Dtschld, der das Jugendalter noch
besser kennt, der das beste Buch über die geheimen Seelengründe der
Jugend schreiben könnte, der es aber nie schreiben wird, weil er die
Zusammenhänge im
Ganzen nicht geben kann,
weil ihn das Normale zu wenig interessiert u. weil er die wissensch.
Kategorien nicht hat.
Goldbeck.
Ich gehe damit um, ihm das Buch zu widmen mit einem Sendschreiben als
Vorwort, das mein Wagnis vor ihm u. den Lesern motiviert. Wir sind
uns persönlich viel näher gekommen. Er ist der interessanteste Mensch
meines Umganges. Auch er scheint auf das Zusammensein Wert zu legen.
Denn obwohl wir erst vor kurzem zusammen waren (3. August), hat er
für Dienstag schon wieder einen Nachmittag angeregt (
Goethes Geburtstag in der von
Schinkel erbauten
Villa Charlottenhof.) Er wird die Widmung
gewiß gern annehmen. Denn ein ganz starker Grundzug seiner Natur ist
- Eitelkeit. Und da liegt die Frage. Ich
bitte im
Original prüfen, ob bzw. von wem hier eine eckige Klammer ist
weiß nicht ganz, wie weit ich der
Substanz
seines Wesens trauen kann. Er wäre nicht so guter Psycholog, wenn er
nicht selbst an allen möglichen Abgründen gewandelt wäre. In der
Revolution hat er mit allem Linksstehenden fleißig geliebäugelt, und
im Ministerium war sein Ehrgeiz manchmal Voltairisch. Sagen wir ganz
kurz: Ist es für
F. d. G.
gefährlich, seinem Freunde
Voltaire, der (wie immer) der einzige Mann in
Berlin ist, mit dem er reden kann, ein Buch zu widmen? Mir gegenüber
wird er nicht unzuverlässig sein. Dazu ist er doch auch wieder ein zu
hochstehender Mensch u. unsre Sympathie zu sehr im Wesentlichen
verankert. Ich möchte Dein Urteil bis Dienstag haben. Hinzufügen will
ich, daß ich in dem Sendschreiben natürlich auch das von Voltaire
irgendwie anbringe, d. h. er bekommt einen kleinen Hieb.
Ich
vermisse eine Zigarrenkiste, die eigentlich auf dem Fensterregal
stehen müßte mit allen Exzerpten zur Jugendpsychologie. In der
Wohnung u. auf dem Boden habe ich sie nicht gefunden. Ob sie im
Keller sein könnte. Oder wo? - Brauchst Du Geld? Ich habe für die
letzte Woche - - 236 Mill. mit nach Hause gebracht, davon 100 der
Susanne zum Spekulieren
gegeben. - Abends lese ich als Stimmungs
<li.
Rand>hintergrund den Grünen Heinrich. Verzeih wenn ich
abbreche, u. verzeih auch die Handschrift. Nach der Vormittagsarbeit
wird das Schreiben schwer.
<Kopf>Alles Gute u. viele
herzliche Grüße in besonders lebhafter Erinnerung an 1903 Dein
Eduard.
[re. Rand] Einliegend 1
Million