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Wilmersdorf, den 30. August
1923.
Mein innig Geliebtes!
Wenn dieses kleine Gedenkzeichen morgen an unsrem Festtage bei Dir
sein soll, so werde ich es heut Nachmnittag an den Anhalter Bahnhof bringen müssen. Es soll Dich in
jene Tage zurückversetzen, die für unser Leben so bestimmend und
beglückend wurden - bei den einsamen Kiefern, am Weißen Stein, weit über den Menschentälern und in
der Ahnung jenes Hohen, das sich uns seitdem verwirklicht hat und uns
gehört. Ich besitze seit heut früh Deine pünktliche Sendung und danke
Dir für die Zeilen Deiner Liebe. Aber was Du da schreibst, daß Du die
Erdenschwere hättest machen wollen, ist nicht viel wert und
strukturell verfehlt. Das wirst Du ja nun in meinem Buche besser
lesen. Der Zufall will, daß ich gerade heut morgen das 8. Kapitel
geschlossen habe mit kurzen Sätzen, die auf das Erleben jener Stufe
den nächsten Bezug haben. Und ein anderer Zufall, den ich eben durch
die "Ästh. Weltansch." entdecke, ist der, daß ich anscheinend auch
1903 den Grünen Heinrich gelesen habe, wie jetzt. Schon
als die Worte des Zitates im
Roman wieder las, kamen sie mir seltsam bekannt vor.
Friedrich der Große kommt mir
wie ein Trostgott. Denn es geht mir schlecht. Ich leide unendlich am
Zerbrechen des Staates. Ich leide selbst daran, daß ich jetzt ein
Buch schreiben muß, statt als sachkundig Handelnder da zu stehen, wo
heute lauter Dilettanten und z. T. nicht reine Geister das Steuer
führen. Nicht genug habe ich seit 1903 die ästh. Weltansch. von mir
geworfen. Ich hätte das Erbe Fr d. Gr. stärker als
mein Erbe fühlen sollen. Ist es eine neue
Epoche, was Deine Sendung andeutet?
Ich erhielt Deinen lieben
Brief ganz rechtzeitig und habe am Nachm. in bedeutenden Gesprächen
mit
Goldbeck auch diesen Plan
enthüllt. Am Abend war ich in dem (deutschnationalen) Kreise von
Martin Spahn. Er hielt ein gut
orientierendes Referat über die Lage: Die Ruhraktion ist verloren,
gescheitert an der Schwäche und Verträumtheit in den Zentralgebieten,
vor allem aber an der Finanzpolitik, dem einzigen Punkte, den
Bismarck in der Verfassung
offen ließ, den
Erzberger mit
richtigem Instinkt faßte, aber nicht regeln konnte. Nachher machte
ich Spahns persönliche Bekanntschaft und sprach über vieles mit ihm.
Man erwartet hier für bald oder später neue Unruhen. Mit Recht.
Alles wird unhaltbar. Die Staatsverwaltung
ist bereits zerbrochen. Eine andre, eine
feste Hand muß kommen! Aber wer? Bürgerliche Seelen, zu denen auch
der un
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|bürgerliche Goldbeck gehört, folgern daraus, daß man
sich mit einer eisernen Ration von Lebensmitteln versorgen müsse. Ich
will auch das nicht unterlassen. 8 Ctr. Kohlen für über 14 Millionen
habe ich
endlich erhalten. Wir reichen zur
Not bis Ende Januar, wenn der Winter mild wird.
Meine
Reiselust ist teils gering, teils groß. Bei den unsicheren
Verhältnissen fortzugehen, ist nicht angenehm. Auch liegt die Arbeit
noch nicht fertig vor. Und doch geht es so nicht weiter: ich brauche
andre Luft, Stille, und mehr Natur. Die Witterung war hier nie sehr
gut, auch nicht, als es bei Euch schön war. Immer gerade an der
Grenze von kühl oder von schwül. Viel Wind u. unmotivierte Gewitter.
Ich bin aber entschlossen, jedenfalls nicht später als am Sonntag den
9.IX zu reisen. Ob nach P., ist mir trotz
Frau W.s wiederholtem Drängen
nicht
absolut sicher. Die
Fröbelsache ist fraglich
geworden. Ich würde sie am liebsten missen, wenn sie nicht
unbedingt für den Verband nötig wäre. Also
am 30.9 in
Frankfurt.
Düsseldorf wird wohl
[über der Zeile] ? fortfallen. Dafür habe ich in der 2.
Hälfte X
hier 2 Reden.
Die
Verhältnisse im Buchdruck kann man sich nicht wahnsinnig genug
denken. Einen Bogen zu drucken kostet
jetzt
(= bis jetzt) 230 Millionen M. Die Schlüsselzahl ist 1,2 Mill. Wer
kauft da noch? Trotzdem war
Quelle sofort entschlossen, sofort zu drucken.
(Honorar als Gewinnbeteiligung gefordert.) Er wird morgen oder
übermorgen kommen. Vom Text sind gute 2/3 da. Aber das Schlimme ist,
daß gerade zur
Endredaktion viele Bücher
erforderlich sind. Die kann ich nicht alle mitnehmen. Ich will sehen,
daß ich 1/3
hier noch fertig mache. Nun
liegen eben ca 10 Manuskripte da, die gelesen werden wollen. Die
innere Ruhe wird also immer geringer, u. die Kraft erlahmt - bei
fleißigem Rauchen - auch schon etwas. Endlich muß an die Vorbereitung
des Winters gedacht werden.
Wenn Du in dem letzten Brief
tatsächlich 500000 u. 5000 M gefunden hast, so ist das ein sehr
trauriger Beweis, daß ich auch nicht besser bin als andere
Zeitgenossen. War das einer von den großen 5000 M
scheinen? Andernfalls wäre ein
Irrtum ausgeschlossen. Ich sende Dir heut oder morgen 10 Mill. per
Post. Die Banküberweisung von 5 Mill. ist hier am 16.8. abgegangen.
Man sagt, die Banken wollen die kleine Privatkundschaft (Einzahlungen
unter 10 Mill.) abstoßen.
Wenn ich recht in Erinnerung habe,
hat
Arn. Ruge 1 Jahr 2 Mon.
Gef. bekommen. Es kann aber auch sein, daß das nur der Antrag d.
Staatsanwalts war u. daß er freigesprochen ist.
Ich habe eine
Zahnarztrechnung von 10 Mill. für 3 Besuche, davon 2 im billigen
Juli. So muß man es machen. Meine Dekanatseinkünfte aber machen es
nicht so. Das Jahrbuch
Lüders
hat für Bogen 1-30 50 Mill. gekostet. Das Register = 1 Bogen u.
Broschieren kosten - 100 Mill.
Susanne hat für mich Lübecker Kommerzbank gekauft,
die gut sein soll, weil Fusionierung mit Deutscher Bank zu erwarten.
- Die Zigarrenkiste hat sich nicht gefunden, hingegen habe ich "
die Krogitzsch vom Fenster aus
aufgegabelt. Sie gibt das Geschäft mal wieder dran u. läßt Dich
herzlich grüßen. Ich glaube, ich muß schließen. Hätte ich doch eine
Schreibmaschine. So werde ich zur Schreibmaschine.
<li. Rand> Ich habe mir die Haare schneiden
lassen 3 cm unter die Kopfhaut. Dabei ist auch eine
Valutaverschlechterung zutage gekommen: das Gold der Seiten wurde
Silber.