Deine liebe Karte muß ich doch gleich beantworten, sonst weiß man
nicht, ob Dich die Antwort noch dort erreicht. Denn die Post ist ja
jetzt gerade so miserabel, wie alles in Deutschland. Von "Ew. Hochwohlgeboren" ist nämlich
garkeine Rede, vielmehr habe "ich selbst" am 19. zwischen 3 u. 5
nachmittags die Karte u. das Geld an der Stempelstelle eingeliefert.
Wenn Du also nochmals schreibst, schicke bitte das Objekt
[über der Zeile] mit der Strafportoforderung mit,
sonst bringe es ja selbst. Ich habe sofort reklamiert, man braucht
aber die Karte dazu. Es hat Zeit damit bis zu
Deinem Kommen. - Ja, wann wird das sein? Hier bist Du zu jeder
Stunde willkommen u. weitere Umstände werden garnicht mit Dir
gemacht. Ich weiß ja, Du nimmst vorlieb.
Seit einigen Tagen
geht es mir auch entschieden wieder besser. Es war eine positive
leichte Erkrankung, begünstigt durch starke Ermüdung u. allerlei
Ärger. Jetzt ist unten wieder regelmäßiger Betrieb mit einem ganz
ordentlichen
Dienstmädchen. Aber
geistig u. körperlich scheint
Aenne der Sache doch nicht mehr recht gewachsen zu
sein.
Daß Du Finanzschwierigkeiten hast, tut mir leid. So
etwas beunruhigt Dich mehr als nötig. Wärst Du meinem Rat gefolgt von
P. direkt hierher zu kommen u. nach Fr. nur den Abstecher zu machen,
dann hättest Du an mein Conto überweisen lassen können, oder auch an
m. Adresse schicken, da man auf der Bank oft nur wenig bekommt.
Außerdem haben wir ja Devisen (jetzt auch noch 1 Dollar!) also können
wir uns immer durchhelfen. Also, wie Du es machst - mir ists recht,
u. je eher Du kommst, umso lieber ists mir. - Ich habe in diesen
Tagen trotz Fieber die Arbeit nicht versäumt, um mich dann bei Deinem
Hiersein etwas frei machen zu können. Mir scheint, als ob die
Witterung in ganz
Süddeutschland ziemlich
gleichförmig war, denn der Regen u. die plötzliche Wärme war auch
hier. Seit heute ist die Tendenz zum Bessern u. da wirst Du
hoffentlich noch einige recht erholsame Tage dort haben. Auch was Du
von der politischen Atmosphäre schreibst, trifft für hier zu.
Vielleicht entnahmst Du es schon der Zeitung, daß es hier recht
lebhaft zuging. Am Donnerstag wurde die Stadthalle mit Drahtverhau u.
Maschinengewehren gegen kommunistische Demonstranten abgesperrt, am
Freitag waren das Gewerkschaftshaus u. der Bahnhofsplatz der
Schauplatz. Weil in
Lörrach angeblich
Reichswehr gegen die Unruhen ver
[2]
| wendet war, wurde hier
2 ½ Tag gestreikt! Alles trieb sich auf der
Straße herum, stand in Gruppen beisammen u. in unsrer
Rohrbacher war es wie in einem Bienenschwarm.
Begonnen hatte das Gruppenbilden unmittelbar nach der
Polizeiverfügung, die jede Ansammlung u. Demonstration verbot. Nach
langen Stunden mehr oder weniger lebhafter Debatten, stob mit lautem
Johlen die Jugend unter 14 davon, u. nicht lange danach setzte sich
auch das Übrige in Bewegung u. die halbwüchsigen Bengels, dazwischen
auch Mädchen in bunten Jacken jagten davon. Immer eine halbe Straße
weit vor der Schupo her, die mit Gummiknüppeln jeden bearbeiteten,
der sich widersetzte oder seitlich sich verstecken wollte. Es war
eine abscheuliche Scene. An der
Bunsenstraße
machte die Polizei Halt, säuberte rechts u. links u. ließ niemand
durch. Dort wo die Elektrische hält, stand quer über die Straße die
aufsäßige Bande, drohend u. schimpfend, bis die Polizei Miene machte,
nachzurücken, dann verschwanden sie endgültig. So blieb es völlig
menschenleer u. seltsam still bis etwa um 8, dann rückte die Schupo
ab u. Gewerkschaftler mit roten Armbinden übernahmen die Ordnung. Am
Sonnabend ging es damit tadellos, noch etwas erregt, aber ganz
friedlich u. jetzt ist alles wie vorher. - Es war ein kleiner
Versuch, vielleicht ein Vorspiel. Immerhin hatte es keinen wirklich
bedrohlichen Charakter. Jetzt wird es gut gehen, solange die Führer
die Zügel behalten. Wenn aber der Hunger erst wirklich kommt, dann
Gnade uns! - Überall hört man, daß die Bauern nichts verkaufen, alles
aufspeichern. Milch, Eier, Kartoffeln - nichts kommt in die Stadt.
Und das ist nicht Mangel, das ist nur Habgier u. mangelnder
Gemeinsinn. Wie soll das besser werden?
- Ich las von
Schleich: Besonnte
Vergangenheit - leider klingt die Eitelkeit garzu stark mit! - Dann
Bab:
Goethes Leben, - ein Versuch es
in seiner organischen Entfaltung verständlich zu machen, jedenfalls
anregend. - Doch von alledem nun bald mündlich, nicht wahr? Seit die
Straßendemonstration abreagierte, scheint mir der Zustand hier für
eine Weile gefestigt. Vorher war auch ganz die erwartungsvolle
Schwüle. Ich hoffe also, Du sollst hier Ruhe finden u. Deine Arbeit
fortsetzen können. Du wirst schon sehen, es wird Dir wohl sein im
kleinen Nest!