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Wilmersdorf, den 21.
Januar 1924.
Mein innig
Geliebstes!
Herzlichen Dank für Deine beiden
lieben Briefe. Meine Antwort wird sich durch mehrere Briefe
hindurchziehen. Inzwischen ist zwar keine
endgiltige Lösung, wohl aber eine Klärung, Beruhigung und
Grenzberichtigung eingetreten. Gesundheitlich geht es mir wesentlich
besser. Es scheint, als ob die ungeheuren Erregungen und
Anstrengungen der letzten Woche in dieser Hinsicht eher günstig
gewirkt hätten. Ich war – anscheinend – innerlich halb erstarrt. Das
Gefühl: ich lebe brach durch die Leiden
hindurch, und insofern wenigstens sind sie nicht unproduktiv
geblieben.
Damit Du den Zusammenhang siehst und nicht das
Symptom für den Kern nimmst, will ich Dir heut wenigstens die
Vorbedingungen schildern. Die Sache selbst dann in einem späteren
Brief, zu dem ein ganzer "Aktenmaterial" gehört, z. T. tagebuchartige
Notizen für Dich, und der also eingeschrieben folgen muß. Daß Du
micht nicht "verstandest" – das ist nicht als Vorwurf gemeint
gewesen.
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| Du müßtest schon allwissend sein, wenn Du dies
komplizierte Gefüge hättest ahnen sollen. Es ist da besser, auch
nicht zu "glauben", man ahnte schon, weil dadurch nur alles in eine
schiefe Beleuchtung rücken muß. Woraus ich Dir Vorwürfe mache, das
folgt ganz klar und ehrlich und ohne Nachtragen zum Schluß.
Der Hauptvorgang liegt sehr in der Tiefe. Mein Leben und meine
Weltanschauung waren auf wesentlichen
Voraussetzungen aufgebaut, die sich nachträglich als falsch erwiesen
haben. Ich weiß nicht, ob Du ganz ermißt, was das bedeutet. Die Frage
ist natürlich: können die Folgerungen bestehen? Sind sie in sich
echt?
Mein Entwicklungsgang war ein
normaler, auf der Geltung ethischer
Institutionen und Überzeugungen beruhender. Ich glaube an Gesundheit
von Moral und Familienleben. Daß ich das nicht gerade an meiner
nächsten Umgebung abgelesen habe, weißt Du längst. Die Sache ist aber
nicht aus. Ich kämpfe mit einem Toten.
Er will mich unterkriegen. Ich beginne heut, die
Ödipustragödie zu verstehen, die wir als Jünglinge vor 25 Jahren (!)
ahnungslos mit Begeisterung griechisch gespielt haben.
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König Laios findet mich nicht unbewehrt. Er wird mich nicht
überrumpeln. Aber auseinandersetzen müssen wir uns. Einmal, weil er
doch auch in mir drinsteckt; und dann: eine Weltanschauung, die man
nicht nur selbst bekennt, sondern lehrt,
muß bis in die Tiefen recht sein. Es ist z. B. schrecklich, ein Buch
zu Ende zu schreiben, dessen Anfänge noch ganz der alten
Weltanschauungsschicht angehören. Dies ist das eine. Nenne es kurz:
die Gespenster. Aber in Gespenstern können auch Götter stecken – es
fragt sich, ob bloße Erdgötter oder höhere.
Das andere ist
damit äußerlich nur lose verbunden; aber es hängt – wie der dritte –
offenbar in der Tiefe mit dem ersten zusammen. Ich kann die
professoralen Maßstäbe nicht mehr ertragen. Und doch muß ich sie
erfüllen, schon vor mir selbst und berufsmäßig. Bin ich unzulänglich,
bin ich darüber hinausgewachsen? Ich denken zunächst immer das erste.
Aber dann sehe ich wider die gänzliche Unlebendigkeit jener
bewunderten Vorzüge. Was aus diesem Konflikt wird – vielleicht eine
Flucht – das weiß ich noch nicht. Denn im Moment habe ich wieder
etwas Boden unter den Füßen; ich sehe, daß ich die Studentenschaft
habe; ich fühle, daß die Kollegen mir
gegenüber zunehmende Wärme und Herzlichkeit entwickeln; und ich sah
am 18.I., als ich die matte, fein gestrichelte
Rede von
W. Jaeger hörte, daß
dagegen in
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| mir ein
Michelangelo lebt.
Aber
wohl deshalb bin ich hier ganz einsam. Und was sich daraus
zusammengeflochten hat – immer in einer ganz providentiellen
Anordnung und Häufung – davon im nächsten Brief.
Ich plane
fest, am 10. März bei Dir zu sein. Ob wir dann auf 8 Tage fortgehen,
weiß ich noch nicht. Wie ist es mit Baden-Baden? Wolfach? oder
Würzburg mit Umgegend? Später bleibe ich noch
1–2 Wochen in Heidelberg bei Dir.
[zwischen den Absätzen] (Wüßte man, daß es in der
Linde geheizte Zimmer u. draußen Sonne gibt,
sagte ich: 4 Tage Freudenstadt.)
Ich war vorigen
Donnerstag kurz davor, Dich um Dein Kommen zu bitten. Aber was hätte
das für einen Sinn gehabt, wenn ich, wie vorige Woche fast täglich,
um 10 fortgehe und um 10 wiederkomme? Auch ist die drohende
Katastrophe (die es für mich nun einmal gewesen wäre) vermieden
worden. Zu heilen
bleibt freilich genug, und zu fürchten auch. – Sehr dringend möchte
ich Dich nun bitten: Richte Dein Leben jetzt nach Möglichkeit so ein,
daß Du Anfang Janu März mit deinen
Kräften nicht ganz unten bist. Lade auch niemanden für diese Zeit
ein. Ich brauche Dich nun einmal ganz. Du
ahnst nicht, wie viel daran hängt, auch daran, daß Du fähig bist,
Wege mit mir zu gehen, denen Du zunächst gefühlsmäßig widerstrebst.
Zur Wahrheit gehört Kraft. Und eben auf diese Wahrheit, nicht auf
mich, kommt es mir bei dem ganzen Ringen an.
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Ich
will jetzt auch zwei Dinge nicht verschweigen, an denen ich Anstoß
genommen habe. Das eine ist nur eine Bemerkung: "Es gibt auch für
mich Stunden, ..... wo ich
Lena
beneide." Das ist nicht schön, nicht würdig, nicht freundschaftlich
gedacht, oder – nicht wahr? – bloß nicht schön u.s.w.
gesagt. Aber man spielt mit solchen Worten
nicht.
Sodann möchte ich erwähnen: Als ich Dir die Bogen zu
Weihnachten schickte, geschah es mit dem herzlichen Wunsch und
Willen, daß
Du sie von allen Menschen
zuerst lesen solltest. Den Amtsrichter
Walther Hadlich habe ich damit
nicht gemeint. Denn solche Leser hätte ich auch
hier. Abgesehen davon, daß ein Buch, ehe es herausgekommen ist, immer
noch etwas von ganz persönlicher Anrede an eine liebe Seele sein
kann: der Autor ist mit fast abergläubiger
Ängstlichkeit auf die
erste Äußerung, das
erste Echo gespannt. Denn er steckt doch
sein Leben drin. Nun konntest Du die Bogen wochenlang liegen lassen.
Denn die Schonung Deiner Augen und Deiner Kräfte ist mir wichtiger.
Auch will ich gar keine abgesetzte, zerstreute Lektüre. Du konntest
auch mit
ganzem Ernst sagen: "dies Buch
scheint Dir mißglückt", "es ist mir als Ganzes fremd" – aber die
nichtssagende Bemerkung ("großenteils schon bekannt") konntest Du
nicht schreiben
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Du mein Liebes, meine einzige und
ganze Heimat auf Erden, fühle auch aus solchen scharfen, klaren
Worten nur die Wahrhaftigkeit, die sein muß und offen reden muß, wenn
sich nicht etwas "fest nisten" soll! Damit ist die Angelegenheit für
mich völlig geebnet und es bedarf keines weiteren Eingehens
darauf.
Mit dem Schild, bitte ich Dich, mach Dir
jetzt aus den oben angeführten Gründen noch
keine Mühe. Wir besprechen das in
Heidelberg.
– Dein Brief ist nicht verloren, sondern lag genau an der Stelle, wo
es hingehörte. – Heut vor 8 Tagen habe ich mir in der 2stündigen
Mittagspause einen Zahn ziehen lassen – ohne
jede Nachblutung u. Nachschmerzen. Der
Lubowski ist ein fabelhafter
Kerl. Deshalb werde ich mir wohl sehr bald wieder einen ziehen
lassen. Ich hatte wegen des Herzens gezögert; aber es tat in dieser
Richtung garnichts; auch geht es damit etwas besser.
Antworte
auf diesen Brief, der ein Fragment ist, nicht, ehe Du die
Sammelsendung erhältst, was allerdings ein paar Tage dauern wird.
Denn ich muß in dieser Woche 10 umfangreiche Arbeiten lesen.
Innigste Grüße
Stets
Dein
Eduard.
[Fuß] Wie viel "Heimatkunden"
willst Du haben?[re. Rand]
Der Dekan war krank. Ich habe ihn
– Gott sei Dank nur kurz – vertreten müssen.