[1]
|
Partenkirchen, den 25.
September 24.
Mein innig
Geliebtes!
Du wirst erstaunt sein, daß ich noch
hier bin. Aber
Susanne hat
geschrieben, daß gerade in dieser Woche die Dielen in meiner Wohnung
aufgerissen würden, und das wollte ich doch nicht in unmittelbarer
Nähe miterleben. Ich fahre also erst am Sonnabend und bin Sonntag
Abend zu Hause.
Ehe ich auf Deine beiden lieben Briefe
eingehe, will ich berichten, was in der Zwischenzeit geschehen ist.
Am Sonntag war ich bei sommerlicher Wärme mit
Frau W. nach alter Art in
Elmau und
Mittenwald.
Erst am nächsten Morgen erfuhren wir, daß sich inzwischen wieder eine
abscheuliche Szene ereignet hatte – eine Prügelei zwischen
Hans und seiner Braut (er ist
mit einer Czechin verlobt) im Garten des Hauses. Die Einzelheiten so
widerlich, daß sie sich nicht wiedergeben lassen. Die Folge waren am
nächsten Tage endlose Beratungen. Ich mußte auch noch heran, um auf
das Mädchen einzuwirken, und empfahl ihr dringend, P. zu verlassen
und sich wieder auf eigene Füße zu stellen. Wenige Tage vorher waren
Unannehmlichkeiten
[2]
| mit
Anderl (und leider auch mit
Felizitas, die ich mir dann
wirksam vornahm) gewesen. Du kannst Dir nicht ausmalen, was die Frau
auszuhalten hat. Es ist ein Wunder, daß sie dabei das heitere
Grundtemperament behält. - Der Besuch des Hauses ist übrigens besser
als jemals im September. - Montag Abend ging ich, z. T. im
Gewitterguß, zu Kerschensteiners hinüber u. verlebte den Abend, etwas
langweilig, mit allen 4 Gliedern der Familie. Dienstag mußte ich um ½
7 heraus, um
Exc. Schmidt von
der Bahn zu holen, der von
Innsbruck nach
München 2 Stunden Aufenthalt hatte. Ich fuhr
ihn im Einspänner nach der Pension u. gab ihm auf m. Balkon ein
kleines Frühstück. Es war sehr nett mit ihm und bei der Abfahrt früh
9.30 war auch
Kerschensteiner
zugegen. Am Nachm. reiste Anderl ab, der eine Stellung in
Elberfeld hat. Wenn dieser Brief ankommt, ist
er vielleicht mit einem Karlsruher Bekannten gerade in
Heidelberg. Gestern war ich in München, um
die für die Durchreise getroffene Verabredung mit
Alois Fischer einzuhalten. Ich
stieg in
Starnberg aus und, obwohl ich kaum
ernstlich darauf gehofft hatte, fand dort noch
Frau Prof. Paulsen. Ich blieb
nur 20 Min; sie fragte lebhaft nach Dir. Abends mit dem letzten Zuge
traf ich wieder ein und war selig, in dieser Stille u. himmlischen
Luft noch 2 Tage vor mir zu haben.
[3]
|
Mein
Gesamtzustand hat sich gebessert. Gesundheitlich geht es mir
glänzend. Aber Du weißt ja, daß mir eigentlich seit langem jeder
Schwung fehlt. Wo das Übel sitzt, weiß ich selbst nicht zu sagen. Ich
sehe kein großes Ziel vor mir, weiß mit mir nichts anzufangen; irgend
etwas ist leer. Hier ist es besser geworden, weil ich wieder mehr
unter Menschen kam; vor allem aber hat
Felizitas (ahnungslos) sehr günstig auf mich
gewirkt. Man muß anscheinend in den Jahren, in die ich eintrete,
etwas Junges um sich haben (nicht bloß Doktorkandidaten); vielleicht
sollte man sogar einen Sohn oder eine Tochter haben. "Der Ehren Zier frommt nicht mehr" - es gibt Tiefen
des Lebens, die nicht literarisch sind. Der Weg in die Politik, den
viele um diese Zeit gehen, ist ein Betäubungsmittel. Für mich wird er
nicht in Betracht kommen, da
Boelitz u.
Becker anscheinend sich wieder "herausgeredet"
haben. So seltsam es klingt: es ist doch nicht gut, wenn man
niemanden hat, um den man sich sorgt, d. h. im Kleinsten, Täglichen
sorgt. Und daß meine
persönlichen
Verhältnisse in
Berlin eigentlich verfahren
sind - darüber haben wir oft genug gesprochen. Ich hoffe nun, die
große psychische Müdigkeit u. Depression einigermaßen überwunden zu
haben. Nur kommt dann im Winter wieder das große Faß, das ohne
Unterlaß gewälzt werden will.
[4]
| Deine Bemerkungen über die
„Lebensformen" waren mir sehr wertvoll. Aber es handelt sich nicht
nur um diesen Typus. Als ich das Buch schrieb, mußte ich "sozusagen"
durch den Fels brechen. Da ist dann eine ganze dicke Gesellschaft
hinterdrein gelaufen u. hat eigene Wege betreten, zu denen ich
Stellung nehmen muß. Besonders das mir gewidmete Buch von
Litt, das ich hier gelesen habe
(es ist maßlos trocken und abstrakt) erfordert, daß ich darauf
eingehe, und der ganze Ansatz muß geändert werden. Dazu habe ich
vorläufig keine Zeit; leider aber auch nicht für
F. d. G. Auch Dein
Bericht über den Kongreß ist mir
sehr
interessant u. willkommen gewesen. Die Ausführungen der Paulsen waren
gut. Das ist doch nicht etwa
die
Paulßsen aus
Leipzig, die mich anschwärmte u. dann die
verhängnisvolle Freundschaft mit
Frau
Krüger schloß? Ist sie schwarz? Ein wenig raubvogelartig? Sehr
groß? Wäre sie es (wider Erwarten), dann würde ich mich freuen, daß
sie so viel aus ihrem Leben gemacht hat.
Flicke ja nicht alles
selbst. Es kommt auf die paar Groschen nicht an. Weit wichtiger ist
es, daß Du Zeit zur Konzentration in Dir selbst behältst. Ich sage
ganz offen, daß in den Zeilen, in denen dir diese Konzentration
möglich war, Dein Einfluß auf mich der stärkste war. Zeit, Umstände
u. Gesundheit sind schuld,
[5]
| daß Du diese verinnerlichte
Form des Lebens nicht immer festhalten konntest. Es wäre kindisch,
wenn ich das als Vorwurf sagte. Aber natürlich fühle ich, ob Du
so oder nur müde und gehetzt auf mich
eingehst, und wiederum ganz schuldlos-automatisch wird dann die
Mitteilung von mir auch spärlicher und alles veräußerlicht. Ich habe
Dir ja schon im Winter geschrieben, wie viel für mich vom ersten
Leser abhängt; noch mehr aber vom ersten Hörer - wenn alles noch
ungeboren nach Werden drängt. Vergiß nie, daß ich ja außer Dir
niemanden habe, der mir gibt.
Die
Thermalbäder werden Dich sehr mitnehmen. Ich bin eigentlich kein
Freund davon. Hoffentlich bekommen sie Dir besser als mir. Ich denke
mit Schrecken daran. Aber die Konstitutionen sind verschieden. - Auch
darauf möchte ich noch aufmerksam machen:
Frau W. hatte mit den Augen
mancherlei Beschwerden. Sie ist sehr froh, seitdem sie
3 Brillen benutzt, je nach der Distanz, in
der sie sehen will. Sollte das für Dich nicht auch eine Erleichterung
bedeuten können?
Nun komme ich, und zwar in Form einer ganz
konkreten Bitte, auf die Frage
Felizitas zurück. Es kann sein, daß ich am Schluß
des Briefes hinzufüge, das Projekt sei erledigt, weil der heutige
Nachmittagsrat zu anderen Resultaten gekommen sei. Aber ich will
schon immer mit m. Gedanken herausrücken. Der Fall
[6]
|
Genf kommt nicht zustande.
Frau W. will der Kleinen aber
eine Abwechslung verschaffen, und da bin
ich auf den Gedanken gekommen, ob Du sie nicht
für 8 Tage (nicht länger) aufnehmen könntest. Ich weiß, ich erbitte
da ein Opfer von Dir. Denn im Seltenleer kann man sie nicht gut
wohnen lassen; für ein Stadtkind ist das poetisch; sie aber ist an
Licht und Sonne zu sehr gewöhnt. Man müßte ihr also ein Bett
aufschlagen. Und Du müßtest diese 8 Tage mit ihr Ausflüge machen, als
wenn ich da wäre. Wenn Du zeichnest, muß sie bei Dir aufräumen oder
sich selbst Abwechslung verschaffen. Vielleicht ließe sich auch ein -
munteres junges Mädchen finden, das gelegentlich mit ihr allein
loszieht. Die Unkosten trage ich. Wenn
der Vorstand genehmigt, dürfte sie unten mit essen:
für diesen Fall berichte ich schon heut ihre Eigenheiten: also
keine Suppe (sie will anscheinend nicht
dick werden; in der Tat ist seit dem vorigen Jahr ihre Figur
vorzüglich geworden); bei der Suppe sieht sie also zu. Fleisch ißt
sie wenig;
viel Kartoffeln, viel Gemüse
oder Mehlspeise oder Reis. Für 8 Tage ist ja ein Abweichen von der
Gewohnheit nicht schlimm. Nur die Suppe ist ihr zu erlassen. -
Eigentliche Belehrungen darfst Du nicht versuchen; immer nur so
unmerklich zwischen mischen u. jede sich andeutende Regung von
Interesse ja aufgreifen.
[7]
| Im übrigen wirst Du Freude an ihr
haben. Sie war noch in keinem Jahr so lieb u. vernünftig wie diesmal
und ist wirklich jetzt die entzückende Blüte zwischen Kind und
Jungfrau. Sie wird 19, entspricht aber unsren 17jährigen. Alles, was
Stadt ist, hat für sie als solches schon Reiz. Mal ein Konzert oder
Theater mit zu besuchen, ist Dir vielleicht nicht unlieb. Sonst geht
vielleicht
Frl. Spröhnle mal
auf die 2. Karte mit. Sehr schön wäre es, wenn von den 1000
Verbindungen des Vorstandes eine zu mobilisieren wäre, mit der sich
irgend ein Dauerband knüpft. - Ich habe hier gesagt, natürlich hinge
alles von Deiner Entscheidung ab. Du schreibst wohl nach
Berlin, u. ich berichte dann. Es müßte doch
noch um den 10. Oktober herum sein.
Dr. Behm hat mir die Rev. des
"
Heuberg" geschickt, in der unser Besuch
erwähnt ist. Dem Urteil der
Gretel
Schwidtal kann ich nicht zu stimmen. Einer ist nicht für
alles. Er scheint mir der geborene Kinderarzt. Aber die Jugend
verlangt Götter, u. die studieren heut noch nicht Medizin.
Ich muß diesen endlosen Brief einmal abbrechen, mein Lieb. Und
diese schöne Reise auch. Es ist hier immer so, daß man am liebsten
hier bliebe. Aber das Haus W. lehrt ja auch, daß der Sonnenschein
nicht immer währt. Wenn ich denke - in 4 Wochen bin ich am
Finnischen Meerbusen.
In
inniger Liebe stets
Dein
Eduard.