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<Stempel:
Professor Spranger
Berlin-Wilmersdorf
Hohenzollerndamm
39>
25.I.28.
Mein innig
Geliebtes!
Ich sitze in der Morgensonne, das
Thermometer draußen zeigt 9°. Aber ich bin nicht nur verschnupft,
sondern in tiefer Mißstimmung. Es ist nicht nur die schlechte Zeit,
die alle Jahre kommt, auch nicht nur die Ermüdung von 2 schrecklich
anstrengenden Tagen. (Montag war 3 Stunden Sitzung im Rektorat u.
dann gleich das „Vergnügen“ der deutschen Akademie mit Rede von
Kube; gestern bin ich um ½ 10 fortgegangen
und abends um ½ 11 wiedergekommen.) Es sind tiefgehende Zweifel u.
eine heraufdämmernde Erkenntnis. Meine Gabe und meine Lust zu lehren
sind im Versiegen. Ich kann zu dem Studenten von heut, nun gar zu der
Studentin, kein inneres Verhältnis finden. In den Dienstagsübungen
finde ich kein geistiges Leben, nicht einmal den Mut und die Kunst zu
einer klar ausgesprochenen Opposition. Diese neue Generation, halb
Psychoanalyse, halb Sport, halb Sozialismus wird, wenn
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| sie
am Ruder bleibt,
meine Ideale jedenfalls
nicht zu den ihrigen machen. Ich sehe die deutsche Universität
versinken und finde mich, in den Augen der Jugend, immer nur als den
fremdartigen Reaktionär. Aber auch unter meinen Kollegen stehe ich
ziemlich allein. Denn da sie die Welt nicht sehen, so wissen sie
nicht einmal, wo gegen sie ist. Und gerade weil sie dann jede Aktion,
die ich für sie mache, mitmachen, liegt die ganze Verantwortung auf
mir. Es ist überhaupt niemand da, mit dem ich über meine innere Not
reden kann.
Susanne, die ich
als
sie so hoch schätze und so gern habe,
ist immer ratlos beim Eintritt in meine Welt. Am tiefsten quält mich
das Versagen der Frauen, an die ich geglaubt habe. Alle treiben sie
Volkserziehung und sehen doch kaum, daß wir in den grundlegenden
Dingen des Volkslebens immer tiefer rutschen. Die Eindrücke der
Novembervorträge habe ich
nicht verwunden.
Und so ist gestern meine Austrittserklärung aus dem Vorstand des
Fröbelverbands, in dem ich mich fremd fühle, abgegangen.
Was
man für mich empfindet, ist überall
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| das Gleiche: Angst.
Die Studenten haben Angst vor mir.
Susanne hat Angst vor mir. Ein preuß.
Ministerialrat, dem ich in der Sitzung Opposition machte, sagte zum
Schluß: „Hoffentlich bin ich nicht in Ungnade gefallen.“
Das
geistige Chaos in Deutschland wird immer
größer. Kürzlich führte jemand den Begriff „konservativ“ wirklich auf
Gott Vater, Sohn und Heiligen Geist zurück. Wir Deutschen sind
Stimmungsmenschen geworden, pflegen unsre „Seele“ und machen aus
jeder Dilettanten
aufführung, jeder rhythmischen Gymnastik eine neue
Weltanschauung.
Es war wirklich erschütternd, als gestern im
Kreise hoher ehemaliger Offiziere ein
Dr. Wildgrube sehr
gut über
F. d. Gr. als
praktischen Philosophen sprach. Das versteht doch sonst kein Mensch
mehr: Pflicht! Man bewundert das Mittelalter, das eine Zeit der
Askese war, und man baut selbst die Kultur ab, indem man für das sog.
„Verdrängte“ wieder alle Freiheit fordert. Wenn selbst das Zentrum
jetzt keine einheitliche Richtung mehr hat, dann weiß ich nicht,
an
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| welchen Maßen sich unser Volk überhaupt noch
orientieren soll. Wir sind ja völlig ohne Ideal. „Volksgemeinschaft“
sagt man. Aber sie hat nie auf etwas anderem als auf
gemeinsamer hoher Tradition beruht, und
gerade sie tritt man mit Füßen.
Ich lege Dir eine Anzahl sehr
ungleicher Briefe bei.
Frau
Paulsen habe ich geschrieben, daß ich das jetzt nicht könne;
seltsame Existenz auch dies!
Darf ich Dich um folgendes
bitten: geh mit meiner Visitenkarte zu
Moro und sage ihm: ich bäte dringend, sich auf
William Stern zu beschränken.
Denn
meine Auffassung von der Sache würde
den Kinderärzten entschieden den größten Anstoß geben. Sie würde auch
zu Sterns Ausführungen nicht passen, und mir sei der Zeitpunkt ein
großes Opfer, weil die Tagung in meine spärlichen Ferientage fiele,
die ich in
Süddeutschland zu verleben
pflegte. Er solle mich gutwillig loslassen. Du kennst mich ja gut
genug, um alles richtig zu motivieren.
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Die Kaiserin will die
Beziehungen zu den intellektuellen Kreisen pflegen, die man als
konservativ kennt. Eigentliche Politik ist das wohl nicht; sie will
nur ein paar freundliche Eindrücke nach
Doorn
mitbringen. War es doch gestern ganz deutlich fühlbar, daß die alten
Offiziere dem
Kaiser bitter
darum zürnen, daß er eben nicht verstanden hat: toujours penser,
vivre et mourir en roi. Ich habe nur nach dem Befinden des Kaisers
gefragt und gehört, daß er um Weihnachten eine Grippe hatte.
Kaufe doch den
Mussolini u.
sende ihn mir leihweise. Eigentlich „authentischen“ Wert hat so ein
Buch natürlich nicht. Mir wäre also ebenso recht das Buch von
Tirpitz.
Hildebrandt hat bei uns einen
angeblichen Habilitationsversuch gemacht. Er ist Anhänger der
Georgeschule. Das hätte ich toleriert. Er fiel aber durch
Jaeger,
Wilamowitz,
H. Maier. Nun sucht das
Ministerium ihn auf andre, m. E. verfehlte Art hineinzuschieben.
In
Neubabelsberg war ich Sonnabend
unangemeldet. Die Freude war unbeschreiblich groß.
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| Es ging
auch friedlich. Aber die seltsamsten Wahnideen werden immer
sichtbarer.
Günther war
hier u. wird Dir ja berichten. Es geht doch recht ins Unbestimmte.
Die Zigarrentasche kann auch hier behandelt werden. Ein
“Kriegsbeschädigter“ ist noch nicht gefunden. Die Hypothek gibt es
sicher nicht billiger und erst nach der Gebrauchsabnahme.
Ich muß wohl abbrechen. Viel herzliche Grüße
Dein
Eduard.