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Heidelberg. 5. März
1928.
Mein liebstes Herz,
das
war mir in der Tat nicht bewußt, daß die Schreibpause lang war. Aber
Du mußt niemals denken, ich wäre verschnupft, denn dazu habe ich
wirklich keinen Grund. Wenn mir auch zuweilen Dein selteneres
Schreiben schmerzlich ist, so sehe ich doch ein, daß Du einfach nicht
dazu kommst. - Ich sehe das doppelt ein, da es mir auch ohne
Überlastung ebenso geht. Denn seit Weihnachten ist meine Energie so
abgeblaßt, daß es ein Jammer ist. Ich schiebe das mit auf die
Heizung. Du hast mich doch schon bei Deinem Hiersein darauf
aufmerksam gemacht, daß der Ofen dunstet u. nach Deiner Abreise bei
dem fortgesetzten Südwind wurde das geradezu unerträglich. Nicht nur
meine eignen Kohlen, sondern auch die Heizung der unteren Stockwerke
suchten den Ausweg durch meine Zimmer, sodaß ich nachts vor Gestank
nicht schlafen konnte u. das Fenster weit offen halten mußte.
Ofenputzer u. Schornsteinfeger fanden keine Ursache, aber es stellte
sich heraus, daß die Kappe auf dem Schornstein verrostet war. Nun
habe ich also einen neuen "Hut" bekommen, nämlich auf den
Schornstein, der sich mit dem Winde
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| dreht u. seitdem ist
alles herrlich. Aber ich bin doch überzeugt, daß ich viel giftiges
Zeug in der Zeit vorher eingeatmet habe.
Um auszulüften haben
wir nun also am Sonnabend den Weg vom
Weissenstein gemacht. Aber
Rösel Hecht u.
Hedwig Mathy sagten ab, es
blieben nur
Frau Fürbringer,
Aenne u. ich. Wir saßen wohl
eine Stunde oben beim Kaffee in der Sonne u. die Natur war entzückend
frühlingshaft. Ich grüßte vom Turm unsern Weg nach
Ursenbach, u. war überhaupt in Gedanken bei Dir.
Inzwischen hattest Du sicher meine Zeilen vom Freitag bekommen u.
Deine Unruhe, die ich so sehr bedaure, war behoben. Ich hätte
garnicht gedacht, daß Du bei Deiner Flut von Briefen nicht "im
Grunde" froh wärst, wenn einer weniger kommt!
Der Weg vom
Langen Kirschbaum herunter scheint mir aber
doch für
Aenne wieder zu viel
gewesen zu sein, obgleich sie versichert, abwärts zu gehen strenge
sie garnicht an. Gestern als "Sonntagsfeier" las ich mit ihr Deine
"Verschulung". Es wurde mir dabei recht klar, wie sehr Du jedenfalls
damit in ein Wespennest stichst, u. wie nötig es ist, daß Du durch
Deinen gewichtigen Einfluß dem Schulfanatismus steuerst. Ich hatte
gerade das, was Du an der dauernden "Ausbildung" tadelst
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so recht an den Stolper Mädels beobachtet. Sie waren noch hier
vollständig Schulkind. Und bei jedem Problem, das aufgeworfen wurde,
hieß es: das haben wir schon in der Schule "gehabt". -
Ob die
Bildungsverwässerung zu hemmen ist? Wenn überhaupt, dann bist Du es,
der einen neuen Kurs einleiten kann.
- Ich brauche heute so
unwillkürlich Seemannsbilder, da ich mich an die Lektüre des
Tirpitzschen Buches gemacht
habe.
Günther hat es mir
geliehen u. ich wollte es gern erst kennenlernen, ehe ich mich zum
Kauf entschloß. Vielleicht nehme ich ja doch noch etwas ganz Andres!
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- - Die Arbeit für die Augenklinik ist beendet. Aber im
Pathologischen steht mir noch manche "Überstunde" bevor. Auch
Weidenreich ist wieder mit
einer sehr mühsamen Sache heraus gerückt, u. der Stoß
Geburtstagsbriefe liegt mahnend auf dem Schreibtisch. Dabei bin ich
so rechtschaffen faul, daß es sehr aussichtslos damit ist. - Dir aber
sende ich wenigstens ein Zeichen meines treuen Gedenkens
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u. die Bitte, über mein Schweigen nicht böse zu sein. -
Die Reichsentschädigungsamt ist doch
hoffentlich nicht mit in dem Baukomplex am
Fehrbelliner Platz? Es faßte mich ein gelindes
Entsetzen bei dem Gedanken an diese Möglichkeit.
Viele innige Grüße von
Deiner
alten
Schlafmütze.
[] Ich schrieb Dir wohl schon, daß ich
wieder bei Mieze Ruge,
Bayreuther Str. 49 eine Schlafstelle haben
kann. -