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Dahlem, 20.II.35.
Mein innig Geliebtes!
Obwohl vor Tisch nicht viel Zeit ist und dies nur ein Teil I
werden kann, zu dem Teil II am 25. folgt, kann ich es doch nicht
aufschieben, Dir zu schreiben. Die Pause wird sonst zu lang. Ich habe
Deinen lieben Bericht über den Zustand
unsrer Patientin. Es
scheint ja noch einmal günstig zu gehen. Für Dich war es wieder viel
Anstrengung. Daß dann abends
doch, oder
vielleicht erst recht, die Budenangst kommt, verstehe ich gut und
tief. Ich finde, ganz abgesehen vom Persönlichen, daß man jetzt immer
in einer latenten Angst lebt. Und sie wird schlimmer, nicht besser.
Was meinen Beruf betrifft, so ist er jetzt im Zentrum der
Gefahrenzone. Allenthalben Verbitterung oder dumpfe Verzweiflung,
oder unwürdige Anpassung.
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| Die Semesterschlußwoche war
höchst anstrengend; aber noch mehr nahmen die trüben, wirklich
trostlosen Eindrücke mit. In meinem direkten Betrieb ging es
ordentlich. Besuch bis zu letzt sehr befriedigend. In der Rel.phil.
ein so
warmer Abschied seitens der
Studenten, wie ich ihn kaum verdient habe. Auch das Seminar ging
ungestört zu Ende. Aber der Fall
O. hat gezeigt, daß eben diese wachsenden
Sympathien der St. dem Empfänger verhängnisvoll werden. Offenbar sind
die jungen Leute in einem Grade im Abmarsch, der "dort" schon Sorgen
macht.
Nach Schluß des Semesters war es aber noch
anstrengender als vorher. Heut habe ich zum 1. Mal ausgeschlafen. Ich
habe in größter Eile meinen
Humboldtartikel hingeworfen für Euren
Bucherer (
Landfriedstr. 2.) = "Humanistisches Gymnasium".
Jetzt bin ich gleichzeitig bei 2 anderen dringenden Aufsätzen. Am
Sonnabend waren wir in
Nicolassee bei
Richters zur Musik. (65 Personen.) Späte
Heimkehr. Sonntag war das
Ehepaar Gusti
allein bei uns (8-11) Es war eine Art Premiere für vornehmen
Besuch.
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| Obwohl es gut ging, kostete es Nerven. Montag um
11 kam
Litt, mit dem ich dann
um 3 zu einer wichtigen Konferenz ging. Um 7 nach Hause gekommen,
mußte ich noch mit
Susanne zu
Meineckes, wo auch
Onckens und
Richter waren. Der Fall erregt immer wieder
Aufregung und schwerste Besorgnisse. Gestern war der
Geburtstagsbesuch maßvoll. Nur von ½ 5 - ½ 7 die
Schwester Honig mit den beiden
netten Mädchen und
Marjas
Großmutter. Dein entzückendes Buch macht auch mir viel Freude.
Heut ist so herrliches Wetter, daß ich gern einmal hinausginge. Aber
1) muß ich in den Etatsachen der Gesellsch. f. d. Erz. u.
Schulgeschichte eine lange, ziemlich hoffnungslose Beratung mit dem
Schatzmeister in
Halensee haben; man
will
das Ding natürlich zerstören; und 2) ist abends Mittwochsgesellschaft
bei
Oncken. Donnerstag nach der
Akademie
Leibnizsachen u.
dergl. Abends Vortrag von
Tomoeda. (alter japanischer Freund.) Freitag spät
abends
Oger. Sonnabend 1
Frühstück bei Tomoeda. Dazwischen muß nun immer kräftig gearbeitet
werden. Und Du kannst glauben:
kein
Eindruck ist rein erfreulich. Alles, jede Post, jeder
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Besuch bringt neues Quälendes oder Demütigendes.
Daß die
Einkommenteuererklärung gemacht werden muß, ist auch keine schöne
Aussicht. Das letzte Jahr hat (bisher - d. h. ohne Steuern, die ev.
nachzuzahlen sind) mit einem Minus von ca 2000
M geschlossen. Das muß natürlich anders werden, und wo soll man
sparen, als leider an den Reisen?
Ich breche diesen Bruchstückbrief für heute ab. Verzeih seine
eilige Unordnung. Aber ich halte es nicht aus, so lange ohne
Austausch mit Dir zu sein. Alle guten Wünsche, viel innige Grüße,
auch von
Susanne, die doch
merkt, daß das Leben mit mir
sehr
anstrengend ist. Bis auf
Frau
Strasen sind nun wenigstens wieder alle "im Dienst."