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28.III.35.
Mein innig Geliebtes!
Die "Heimkehr des
Odysseus" war recht traurig. Alle Silberstreifen am Horizont sind
fort. Ich spüre auch so sehr das Erlahmen meiner Kraft. Denn jede
Feder will aufgezogen sein. Aber sie ist bald abgelaufen, und ich
erinnere mich an jenes Leipziger Dienstmädchen, das von der
Fliedersuppe sagte: "Wenn Herr Professor sich nichts daraus machen,
dann mach ich mir de Miehe nicht." Es ist
in toto trostlos. Der Trost vom brachliegenden Feld paßt für das
Individualleben in meinen Jahren nicht.
Gesamtzahl der
Studierenden in Berlin ist auf 5600 herabgesetzt. So viel hatten wir
zwischen 1880 u. 1890. Immatrikulationen finden nur für Ausländer
statt. Schon im Winter hatte ich in meinen Übungen ⅓ Ausländer!
Hartnacke ist abgesetzt.¹)
[Fuß] 29.III ¹) Heut Brief von ihm: er hat wegen
Zumutungen niedergelegt.[2]
| Die Folgen für
Litt kann man sich ausdenken.
Leisegang soll neuerdings
freigelassen sein ¹)
[re. Rand] ¹) 29.III: ein kurzer
Brief von ihm. Die 2 ersten Tage unseres Hierseins
standen unter dem Zeichen unerwarteter Besuche von Durchreisenden:
das
Ehepaar Moog (
Braunschweig),
Frau
Flitner (
er blieb fort),
heut
Aloys Fischer (3 Stunden),
der
Studienrat Lehmann aus
Landsberg (der um seine arische Abkunft
kämpft, die die Wissenschaft nicht erweisen kann.)
Gieses Besuch habe ich
freundlich, aber bestimmt abgelehnt.
Brosius, ein verlöschendes Licht. In
Halberstadt auf dem Bhf begrüßten uns
Schulrat Gans mit
Frau und
Sohn.
Dieser tapfere Ostpreuße kämpft immer noch um seine Rehabilitierung.
Die ganze Reise war ja vom Wetter begünstigt, bis auf
Goslar, wo es lebensgefährlich
gos. (Wir kamen bei gutem Wetter über den
Berg von
Romkerhall.) Aber Erholungserfolg
konnte nicht konstatierbar sein. Der Kampf der Kirche wird radikaler.
Die Erklärung vom 17.III. ist
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| endlich sinngemäß. Nur
besteht keine Aussicht auf Erfolg. Das Urteil von
Kowno, das auch
Susanne sehr schwer mitempfindet, rückt ungewollte
Kriegsgefahr nahe. Die Dinge treiben - wer weiß, wohin denn
schließlich.
Der
Humboldtgedenkakt am 8.IV. im
Schloß Tegel findet nicht statt. Insofern habe ich
Dir vergebliche Mühe gemacht. Brich also bitte die Auszüge ab. Solche
Abbrüche sind eben typisch.
Das
W. ein Auto hat, ist mal als
Episode ganz hübsch. Man fragt sich nur:
warum muß er ein Auto haben? Da ist die leere
Stelle, die sich bequem ausfüllt. Die Not im Inneren wird nicht mehr
gefühlt. Man gleitet dahin. Was soll man eine Last auf Schultern
tragen, die nur das Fortkommen auf dem Wege erschwert?
O, daß
man diese Last fortwerfen könnte! Aber ich denke an
Christophorus.
Ich möchte einmal Zeit haben, Dir mein
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| inneres Leben ganz schildern zu können. Es
steht unter der allgemeinen Gefahr der Kontraktion. Es steht unter der Gefahr der
Negation, d.h. unter dem Aspekt, das Deutsche nur noch negativ zu empfinden. Denn das Ja
zu vielem wird immer wieder zerbrochen von dem Eindruck der personalen Träger. So geht es
nicht voran. Wenn man kämpfen könnte! Aber alles Aktive ist verbaut. Nur die Erinnerung an
den Kampf vor 2 Jahren entlastet. Denn sonst müßte es jetzt unter viel hoffnungsloseren
Auspicien geschehen.
"Das
Überindividuelle" walzt über Einzelseele und Einzelschicksal
grausamer, als es die Stufe der heut erreichten Einzelperson und
ihrer Verantwortungen erträgt. Man muß und soll und kann nicht. So
ist es oft mit dem Wollen in schweren Träumen.
Es geht mir
seelisch garnicht gut. Privatim könnte ich glücklich sein, wenn ich
primitiv genug dazu wäre und ein Auto hätte.
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Da mir die letzten Handschuhe, die
abgetragen waren, von einer Person mit sehr berühmtem Namen gestohlen
worden sind, habe ich nur noch weiße Handschuhe in Reserve. Ob die
brauchbar wären?
Susanne holt sich immer noch Glücksquellen heraus.
Sie war sehr munter im
Harz und hegte sorgsam
ein 40 cm langes Holzstöckchen, von dem sie sich nicht trennte.
Solche Dinge sind für mich symbolisch. Es reicht nicht zum Stützen,
es ist aber ein Stück vom Walde, und es gibt ein bißchen
Rhythmus.
In all meinen Sorgen und Leiden fühle ich mich mit
Dir unlöslich verbunden.
Hoffentlich sind Deine Halsschmerzen
verschwunden. Bei so trockenem Staub habe ich das auch manchmal. Ich
empfehle auch zur Vorbeugung: Thyangol.
Die gewohnte Stunde
des Nichtmehrkönnens ist da. Gute Nacht. Felicissima notte!