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Stolp.
20.9.35.
Mein geliebtes Herz!
Heute ist schon eine Woche vergangen, seit ich von Euch ging, und
sie ist mir nur so verflogen. Nur nachts habe ich Zeit meinen
Gedanken nachzuhängen und mich zu Euch zu versetzen. Anfangs war das
ein rechtes Vermissen, und da kamen Eure lieben Briefe sehr zu
rechter Zeit, um mich zu trösten und so recht innerlich zu erfreuen.
Könnte ich doch in dieser stillen Stunde, wo
Hermann in seinem Zimmer
arbeitet,
Hedwig in einen
Bekenntnisgottesdienst geht und die Kinder zu Bett sind rasch zu Euch
fliegen und mich von Eurem Ergehen überzeugen. Das Zusammensein war
so schön. Es war ja hauptsächlich auf die nähere Verständigung
zwischen
Susanne und mir
eingestellt und ich bin gewiß, daß dies sich erfüllt hat. Allerdings
lastet die bevorstehende Veränderung in Eurem Hause, die ich von ihr
aus
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| als unumgänglich fühle, auf mir
und hat mich von
Marja fern
gehalten. Wenn ich die Situation überdenke, die wenige Zeit, die Du
auch im Hause einem Kinde widmen kannst, dann male ich mir aus, daß
du vielleicht im Umgang mit den andern Neffen und Nichten deiner Frau
eher Gelegenheit finden wirst, junge Seelen zu gewinnen und Einfluß
zu üben. Gerade solche gelegentlichen Begegnungen können besonders
eindrucksvoll sein.
Hier bin ich nun schon ganz eingeschaltet.
Der Vormittag ist von ½ 9 bis 1 Uhr ganz der Arbeit gewidmet. Nach
Tisch wird geschlafen und dann kommt die Familie zu ihrem Recht.
Besonders die Jüngste,
Helga,
schließt sich an mich an; denn
Mechtild und
Gisela sind sich im Alter viel näher als mit ihr,
sie bewohnen ein gemeinsames Zimmer und die Kleine ist viel allein.
Man könnte gute Studien über Erbgut an den Kindern machen; äußerlich
sind
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| sie immer abwechselnd mehr nach der Familie
der Mutter und der
des Vaters geartet. Innerlich
kann ich sie noch zu wenig beurteilen. Mein Patenkind Gisela ist in
den Flegeljahren; sehr mundfertig, kurz angebunden. Aber der Ton des
Hauses ist bei aller Freiheit wohlerzogen ohne beständige
Ermahnung.
Mit der Arbeit finde ich mich leidlich zurecht.
Noch geht es nicht fehlerlos leider, aber
Hermann ist geduldig. Trotz des
heftigen Sturmes, der heute den halben Schulhof als Samum davon
führte, habe ich absolut keine Schmerzen und zehre von der Erholung,
die ich mir bei Euch holte! Am ersten Tage hier war noch herrliches
Wetter und ich machte mit
Hedwig einen schönen Weg an der Stolpe über Wiesen
und durch Wald, der ganz märkischen Charakter hatte. Jetzt aber tobt
es schon tagelang um das Haus, als sollte es davon fliegen. - Von
meinen Bekannten habe ich
Annemarie
Böttcher und
Frl. Dr.
Schwarz schon
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| mehrmals gesprochen. - Mit Hedwig
vertrage ich mich gut, nur in der Kirchenfrage gehen unsere Meinungen
auseinander, da sie ganz positiv eingestellt ist. Sie ist auch
zeitlich sehr davon in Anspruch genommen, durch Bibelstunden, soziale
Hilfsarbeit u.
dergl.! Auf den ersten Blick
könnte man denken, daß die Ordnung im Hause größer sein müßte. Aber
bei sechs Kindern und nach einer 24jährigen Ehe ist der Haushalt eben
verbrauchter, als bei eben Verheirateten. So war der Abstand von Euch
zu hier wohl groß. Aber man spürt doch, daß Hedwig alles im Zuge hat
und sehr fleißig ist. - Wegen
Frau
Bon wollte ich noch sagen, daß es wohl nicht richtig wäre, sie
nicht zu empfehlen wegen ihres Kochens. Es kommt doch in jedem
Haushalt mal etwas Mißglücktes vor und ich fand es durchschnittlich
sehr gut. Ich wollte ihr und Euch doch wünschen, daß
sie bald etwas Geeignetes fände.
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Obgleich ich immer wieder davon sprechen hörte, habe
ich leider die Daten Deiner Reisen nicht behalten und ich schicke
diesen Brief auf gut Glück. Am 24., das weiß ich ja gewiß, wirst Du
keinesfalls für mich erreichbar sein.
Und etwas, was auch in
Berlin für mich unerreichbar blieb, war Deine
Arbeit, die ich nur mit Liebe äußerlich betrachten konnte. Aus einer
Unterredung mit
Brosius erfuhr ich, daß es sich um das
"Standortproblem" handelt - und wie glücklich machte es mich, als ich
Dich bei meiner Ankunft so freudig beschäftigt fand. Es ist mein
heißer Wunsch, daß Du mit neuer Kraft darauf zurückkommen möchtest.
Wenn ich im November wieder in Berlin bin, dann darf ich vielleicht
mehr davon sehen - ?
Nun will ich den Brief noch in den Kasten
bringen - wie sonst in
Heidelberg.
Hermann läßt sehr herzlich
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| grüßen, auch
Susanne "unbekannterweise",
denn er hat sie ja damals garnicht "wahrgenommen." Auch ich grüße
Euch beide herzlich. In immer gleicher Innigkeit