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Heidelberg. 13. Dez.
1935
Mein geliebtes Herz!
Ach, jetzt sind es fast 3 Wochen, seit Dein lieber Brief nach
Hofgeismar kam und ich möchte doch immer von
Dir hören! Bitte, bitte, gewöhne Dir das Schreiben nicht so sehr ab –
es ist doch die Hauptsache für mich. – – Gegen den Freitag, der sonst
mein Privileg war, hat sich das Schicksal aber verschworen. Heute
endlich dachte ich einmal behaglich Zeit zu haben, da kam – o Freude:
– ein Auftrag von der Augenklinik. Als ich von dort zurückkam,
klingelte
Rösel Hecht an und
entführte mich noch in die Stadt. Und dann war Zeit zum Abendbrot,
das mit dem Herrichten und mit Spülen gut eine Stunde in Anspruch
nahm. Und nun ist es spät. Aber Du wirst Nachsicht mit mir haben,
nicht wahr? Es geht mir eigentlich gut; jeder beredet mein Aussehen
und ich bin auch entschieden wohler und kräftiger. Und wie froh bin
ich, das auch gleich etwas zu betätigen. Gestern war die Arbeit für
Dr. Schneider fertig, heute
begann die Augenklinik und im Januar hat
Dr. Ewald wieder Blutbilder.
Dabei hatte ich gerade auf die Aufforderung, der
Arbeitsfront beizutreten, erklärt, ich sei schon länger arbeitslos.
Da will mich das Schicksal scheints Lügen strafen. Es wäre nett von
ihm und ich würde dann auch willig meinen Beitrag zahlen, wenn es so
dabei bliebe.
Sehr erfreut bin ich, daß mit
dem Vorstand jetzt wieder gut
zu verkehren ist. Ich will ja gewiß gern hingehen, so viel ich irgend
kann, aber ich kann nichts alles andere deswegen vernachlässigen.
–
Zu berichten habe ich eigentlich nichts diesmal. Ich bin
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| jetzt wieder aus der für mich nicht geeigneten
<unleserliches Wort> des
Optimismus – außer
beim
Vorstand – gründlich heraus. Freilich ist es nicht fruchtbar,
da man ja nichts ändern kann, aber ich höre doch mit Staunen, wie
offen die Leute hier Farbe bekennen. Das kommt wohl daher, weil es
jetzt anfängt, an die Magenfrage zu gehen. – Einzelne aber verstehen
auch wieder, ihren Vorteil dabei zu wahren.
Hans Henning, z. B., der
definitiv von
Danzig fort ist, hat sich in
Baden-Baden eine Villa mit Park gekauft.
Vielleicht auch als Flucht in Sachwerte zu beurteilen; man sagt hier
unter anderen, daß viel kostbarer Schmuck gekauft wurde – aber hat
man da nicht nur die Sorge, ihn zu hüten?!
Die „Kulturtat“,
von der ich Dir neulich erzählte, habe ich jetzt gemeinsam mit
Adele gelesen und wir hatten
große Freude daran. Es ist wirklich eine große
Ehrlichkeit der Kritik und man staunt, daß das Schriftchen noch nicht
verboten ist. In kirchlichen Fragen ist jede
schriftliche Mitteilung verboten.
Liebes Herz, Du hattest mir
einen Brief von
Hermine angekündigt! Ist sie noch in
Fürsatz?, ich möchte ihr gern einen
Weihnachtsgruß schicken; so wenig Weihnachtsgedanken wie diesmal
hatte ich noch garnicht. Dabei möchte man doch so gern Freude machen,
da ja sonst so wenig Ursach dazu da ist. Aufmärsche, Reden,
Eröffnungen, Kundgebungen, Aufmärsche, Reden – – fieberhaft.
Hoffentlich geht Dein Colleg ruhig und befriedigend weiter. Wie
schön, daß die Jugend noch immer das echte zu finden weiß.
Sei
innig gegrüßt – und denke daran, daß am 21.12.
Hermanns silberne Hochzeit ist.
Die fahren tagsüber mit den Kindern zu
Hedwigs Bruder nach
Schlema – sind aber abends wieder
zu Haus. – – Herzliche Grüße auch an
Susanne.