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Heidelberg. 7. November
1936.
Sonntag abend.
Mein geliebtes
Herz!
Von Tag zu Tag habe ich auf eine Nachricht
aus
Colombo gehofft, aber noch ist sie nicht
gekommen. Und so will ich wenigstens ein einseitiges Plauderstündchen
mit Dir halten, um den Sonntag zu feiern. Ich war den ganzen Tag
still zu Hause; es war aber auch ein furchtbares Wetter, nur hie und
da von scheinheiliger Sonne unterbrochen. Schon in der Nacht hatte es
ums Haus getobt und geradezu wütend gegossen. Es ist eben die Zeit
der Novemberstürme. Sehr schön aber war da der Blick über die
Rheinebene mit der ständig wechselnden Beleuchtung. Ich werde nicht
müde, mich an dieser Aussicht zu freuen. - Was ich den ganzen Tag
mache, wenn ich so allein bin? O, ich habe morgens aufzuräumen.
Außerdem hatte ich heute ausnahmsweis lange geschlafen, denn ich war
in letzter Zeit etwas übermüdet. Dann habe ich mir etwas gekocht und
gleich nach dem Essen habe ich fleißig genäht: einen Vorhang für das
Gestell in der Küche und ein großes Kissen als Rückenlehne, wenn die
bewußte Couch als Sopha benützt wird. Es wird also immer vollkommener
bei mir!! - Morgen werden nämlich
Adele Henning und
Exzellenz
Mathy mit
Tochter
bei mir sein, da mußte ichs doch den alten Damen etwas bequemer
machen. - Mit Mathys ist das nämlich eine heikle Sache. Wir hatten
vor langer Zeit mal verabredet, daß sie zu mir kommen wollten und
dann habe ich es über der ständigen Jagd in die Stadt total
vergessen. Ich war überhaupt so kopfmüde, daß ich mich auf
garnichts
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| besinnen konnte. Es hätte mir aber eigentlich
nach dem Umzug eine kleine Pause gehört und statt dessen kam
verdoppelte Zeichenarbeit. Nun bin ich also gestern zu
Frl. Dr. Clauß gegangen und sie
hat mir allerlei sehr vernünftige Ratschläge gegeben.
Blutbeschaffenheit ist wieder fast normal, aber der Blutdruck zu
schwach und da hat sie mir Pillen verordnet nach Vorschrift des
berühmten, alten
Erb. Das wird
nun helfen. Aber vor allem werde ich pünktlicher schlafen gehen. Weil
ich immer den ganzen Tag unterwegs war, kam ich erst abends zur
eigenen Arbeit und darüber wurde es meistens recht spät. - Einmal war
ich sogar abends aus und zwar zur Reformationsfeier. Seltsam - es war
garkeine dogmatische Enge, der Redner sprach sehr warm und würdig,
und doch ist es mir nicht eigentlich tief gegangen. Ich empfand mehr
denn je den inneren Abstand. Die Kirche braucht eben für die
Mitteilung ihre überlieferte Bildersprache, jeder legt sie sich für
sein Gefühl zurecht; mir aber ist die unmittelbare Erfahrung viel
mehr und sie läßt sich nicht in die hergebrachte Form zwängen. - -
Einen interessanten Aufsatz aus der Frankfurter gab mir
Adele über "Wege des
Protestantismus". Es handelt hauptsächlich von
Harnack und
Barth; und wenn ich
herauszulösen suche, was nun die wirkliche Einstellung dieser Männer
ist, dann scheint mir da doch auch viel gewaltsames Festhalten am
Wort der Schrift zu sein. Aber das müssen wohl die Theologen, sonst
ist keine Kirche mehr und die "liberale" Richtung hatte wohl
schließlich das eigentlich Christliche ganz verloren.
Abends
lese ich jetzt mit Interesse die kleinen Aufsätze von
Eugen Diesel "Ringen um
Europa". Da ist mancher anregende Gedanke und die Hauptsache ist die
immer wiederholte Mahnung: Haltet ja zusammen, sonst ist
Europa[3]
| verloren. Die Stimme eines
Predigers in der Wüste. Ob sie gehört wird? Ich denke mir, Du wirst
Gelegenheit haben, dort in einer gewissen Distanz die Dinge klarer zu
sehen als wir hier. Bisweilen überkommt einen doch in Anbetracht all
der Explosivstoffe, die man in der ganzen Welt spürt, das Gefühl, daß
es wirklich heute nur ganz primitiv um das Behaupten der Existenz
geht und alles andere zurücktreten muß. Aber es wird uns niemand
überzeugen, daß dies die höhere Form des Lebens ist.
Aber [über der Zeile] Doch man ist gerechter, wenn man sie als
eine Geburt der Not ansieht.-
Vorgestern bekam ich eine sehr
traurige Nachricht, wie ja überhaupt so viel Trauriges geschieht. Auf
meinen Brief an
Hermine
schreibt deren
Schwester, daß
sie schwer krank im Neustädter Krankenhaus läge. Es ist
Blinddarmoperation gemacht, aber offenbar zu spät. Es war schon
Bauchfellentzündung und jetzt sei Lungenentzündung dazu gekommen.
Über die Ehe äußert sich die Schwester nicht, nur daß sie im letzten
Jahr so viel durchgemacht habe. : der
Abschied von
Fürsatz, und in
Schwaningen hätte sie sich nicht eingewöhnen
können. Sie sei ganz abgemagert und die Augen starr gewesen, als die
Schwester sie im Juni sah. Sie war völlig schwermütig und alles war
ihr gleichgültig, auch den Geschwistern schrieb sie nicht mehr. -
Bekannte aus
Freiburg brachten sie nach
Neustadt, wo sie sich bei der
vergeheirateten Schwester
allmählich erholte und dann am 15. Sept. eine Stelle annahm, um ihr
Brot zu verdienen. Also wollte sie doch nicht nach Schwenningen
zurück. - Ich habe gleich nochmals an die Schwester geschrieben,
fürchte aber es wird Hermine kaum noch am Leben treffen. War sie
krankhaft veranlagt oder waren die Verhältnisse schuld? Es
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sprach bei ihr immer ein sehr starkes Gefühl durch ihre Äußerungen
und nun dazu das Heimweh, wo sie doch nie von Fürsatz fortgewesen war
- - Es ist so grausam, daß dieses liebe Menschenkind so traurig enden
soll. Sie war doch immer nur für die Ihrigen da. -
Inzwischen
kam auch die Todesanzeige von dem
Dr.
Wentzel, den wir mal in
Furtwangen und
mal auf der
Reichenau trafen. Da war nun der
Tod ein Erlöser, denn er hatte ja mit Trinken seinen Körper ruiniert.
- Auch die arme, trostlose
Frau
Grassi schrieb mal wieder. Sie wünscht, daß ich eine kleine
Summe, die hier auf der Sparkasse ist, einer bedürftigen Studentin
zuwende. Weißt Du vielleicht jemand? Ich weiß, das wäre mehr in ihrem
Sinne als der offizielle Weg. -
Nun habt ihr nach dem Fahrplan
nur noch 2 Tage zu fahren; denn ihr werdet doch in Yokohama aussteigen. Wie seltsam wird das sein,
wieder festen Boden unter den Füßen zu haben! Festen Boden zwar - da steht in der Zeitung, es
sei wieder Erdbeben in Japan gewesen!
Hoffentlich: gewesen. Und in
Vorderindien waren Wirbelstürme; also ob der
Indische Ozean wirklich so sanft war, wie man
ihn Dir schilderte, das ist mir bedenklich. Ich bin recht ungeduldig,
nun endlich mal wieder von Eurem Ergehen zu hören.
Und dann
wollen wir, bitte, in Zukunft mal genau feststellen, wie lange eine
Nachricht braucht, sowohl hin als her. Damit man doch zu bestimmten
Terminen einigermaßen pünktlich schreiben kann. - Die Post hier in
Rohrbach ist wie auf dem Lande: morgens nach
10 Uhr und nachmittags um 5. Ich finde also die Briefe immer erst,
wenn ich heimkomme.
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Fortsetzung
am 10.XI.
Eben - bei meiner Rückkehr aus der Stadt (½
10 - ½ 8 Uhr) finde ich nicht den erwarteten Brief aus
Colombo, sondern den aus Singapore! Vielen, vielen Dank. Das war eine große
Freude. Und die schöne, kräftige Feder! Sie soll ein Symbol neuer
Schwungkraft sein.
Welch eine Fülle von Eindrücken, welch
fremde Welt ist da um Euch. Man hat wohl davon gehört, hat Bilder
gesehen, aber wie anders ist das noch in Wirklichkeit. - Vor allem
bin ich froh, daß Ihr gesundheitlich gut dabei zu bestehen scheint.
Möchte das auch in Zukunft so bleiben. In
Tokio sollen die Leute so gern sein, die
deutsche Kolonie hielte so fein zusammen. Von hier ist die
Tochter vom verstorbenen
Bürgermeister Drach dort, die
in einer Familie in Stellung ist und nicht zurückwollte, als die
Leute, mit denen sie hinkam, wieder nach
Deutschland gingen. -
Endlich habe ich auch
in der vorigen Woche
Herrn Dr.
Drechsler kennen gelernt und ich glaube, wir haben uns ganz
nett angenommen. Ich werde seine
Mutter und
Schwester auch mal aufsuchen. Vorläufig sind meine
Tage noch immer ziemlich besetzt. Es kommen ja nicht allzu viel Arbeitsstunden dabei heraus, aber
ich bleibe dann übers Essen in der Stadt, schlafe bei
Adele oder
Rösel und fahre erst gegen Abend meist zurück. - Endlich habe
ich auch ein paar Besuche gemacht, die längst fällig waren: bei der
kranken
Frl. Schupp, die auch
eine neue, kleine Wohnung hat. Und in der gleichen Straße ganz nahe
bei
Dossenheim!! weit in der Ebene wohnt auch
Frau Bankdirektor Mathy in
einem neuen Hause. Es ist bei beiden das gleiche Prinzip wie bei mir,
nur eine
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| Nummer größer. Und doch gefällt es mir bei mir am
besten. Auch eine Aussicht haben sie nicht wie ich! - Mit der Heizung
bin ich sehr zufrieden. Die Wohnung ist immer behaglich warm. Bis auf
die Bücher bin ich auch so ziemlich in Ordnung. Da fehlt mir nur noch
ein Gestell, was ich vom
Vorstand bekomme, die es nicht mehr braucht. Daß Du
von einem 4Monatkind entzückt bist, ist aber erstaunlich. Das muß
wohl ein kleines Wunder sein. Ich habe hier
meine Vierjährige hin und wieder.
Sie ist ein amüsantes Persönchen. Heut kam sie leider zu einer
Bruchoperation ins Krankenhaus. Das wird heut abend wohl manches
Tränchen kosten.
Nun will ich aber nochmals in das stürmische
Wetter hinaus und den Brief in den Postkasten bringen. Das ist eben 5
Minuten weit und geholt wird zuletzt um 9 Uhr. Also für heut: gute
Nacht! Wo mögt Ihr in
Tokio nun wohnen? Ich
bin ja so gespannt auf Eure Eindrücke. - Grüße
Susanne herzlich.
Innig und treu
Deine
Käthe.