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Sonntag, 8. Mai
38.
Mein innig Geliebtes!
Wir
haben heut seit der Rheinreise den ersten freien Tag gemacht und sind
in Freienwalde gewesen - 8 Uhr fort, 8 Uhr
heim. Der Kopf ist von der ungewohnten Luftfülle noch berauscht und
die Beine sind müde, da wir wieder, wie wir beide Ende April 1928,
via Fallenberg gegangen sind. Bei der
Heimkehr fand ich Deinen lieben Brief.
"Eine
Schwalbe macht keinen Sommer." Ich habe den bereits
zurückgesandten Nachruf auf
Ernst
Schwalbe mit Bewegung gelesen. Wer und was ist eigentlich der
Verfasser? Dank für die Mitteilung. Aber - Sommer war heut nicht.
Gelegentlich hat es Graupelschauer gegeben. Trotzdem war das Wetter
günstig, und der frisch grünende Wald tröstete über die braunen
Blätter, die noch überall liegen.
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Sonst geht es
physisch nicht ganz nach Wunsch. Das Herz arbeitet nicht genug. Das
mag mit der Überbeanspruchung in
Japan
zusammenhängen. Diese wird auch für andere greifbar, nachdem nun das
2. Buch meiner japanischen Reden, unter dem Titel "Pädagogische
Vorträge" (10) hier eingetroffen ist, das im Umfang das erste
übertrifft und doch noch nicht alles enthält, was in Japan geredet
worden ist. Wir haben auch sonst viel Kontakt mit J., das sich im
Kriege sehr schwer tut.
Okubo,
Kang,
Yukiyama
[über der Zeile] Becker u. viele andre haben geschrieben.
Schöne u. schauerliche Bilderwerke kommen, und Ende Mai soll sogar
endlich unser "Geschenk", das Bild von
Araki, eintreffen, während die Angelegenheit
dessen, "was zum Halse heraushängt", laut Mitteilung von der
B. noch schwebt. Man muß dazu ein
Gehalt von 16000 (
nominell) haben. Ich habe
allerdings nur 15900.
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Wir haben eine nie
abreißende Kette von Besuchen.
Susanne ist nur 6 Tage fortgewesen und kam vom
Brüderlichen ebensowenig erbaut zurück wie angetan vom
Schwesterlichen und Tantigen. Sie hat jetzt
eine kräftige Erkältung, die sie
nicht
mitgebracht zu haben behauptet, obwohl sie keinen Wintermantel
mitgehabt hat. - Es waren also bei uns
Frl. Silber, der
Mittelschulrektor Stellmann aus
Ostfriesland (feine Natur, Bericht à la
Häbler), der
Oger,
Hans Volkelt,
General v. Voß u.
Frau, ein italienischer
Philosoph namens
Grassi
(verwandt?) und mancher sonst. Auf
Erika haben wir vergeblich gewartet, sie will aber
in dieser Woche kommen.
Christian
Biermann hat seinen Doktor gemacht. Wir haben beim
Rassengünther (feine Leute)
Gegenbesuch gemacht.
Georg
Maier hat gegen den
Herrn
H. Dienstaufsichtsbeschwerde eingereicht. Es besteht die
Vermutung, daß er mich wegen § 175 verdächtigt hat, was ja jetzt
"nach be
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|rühmten Mustern" genannt werden kann. (
v. Frisch hat über die Bienen
geschrieben. Das verwechselst Du wohl; es fehlt ein Buchstabe.)
Gestern waren wir bei
Frau u.
Frl. Dr. Henrich
eingeladen.
Nun, und wenn Du dies alles so hörst, wirst Du
Dich mit Recht wundern, daß ich doch die ganze Kraft auf die Vorlesungen verwende. Das
Seminar zeigt diesmal einen so starken Niedergang der Fähigkeiten und
Leistungen, daß es mir ernstlich Sorge macht. ("Zur
Entstehungsgeschichte der deutschen Volksschule")
Ihr habt in
Heidelberg einen ganz jungen Romanisten
bekommen,
Dr. Mönch, bei dessen
Habilitation ich wesentlich beteiligt war. Das scheint ein feiner
Mensch, schon äußerlich. Kannst Du mir, für wichtige Zwecke, eine
einigermaßen authentische Auskunft darüber beschaffen, auf Grund
welcher Mängel
Ernst Hoffmann
vorzeitig pensioniert worden ist? Es läge mir wegen der Akademie viel
daran.
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Ich war zweimal zu Trauerfeiern im
Wilmersdorfer Krematorium: am vorigen Sonnabend für den 77jährig
verstorbenen
Metzner, den
Korrektor der "Gesellschaft für deutsche Erziehungs- u.
Schulgeschichte", die ich am 23. Mai endgiltig auflösen werde; am
Montag zur Bestattung des Archivars der Akademie,
Prof. Sthahmer, der am Abend nach einer
mutter munter mitbehandelten
Geschäftssitzung mit 54 Jahren in befreundetem Hause einem
Schlaganfall erlag. Memento mori.
Bei der Feier des 80.
Geburtstages von
Planck bin ich
auch (allein) gewesen. Dort war auch
Schrödinger, der "in lustigem Krieg" von NS.
überall wieder aufgestöbert wird.
Frankes
sind in
Badenweiler;
Petersen ist erfroren (wie auch
Wallner) von dort
zurückgekehrt. Mit
Thiele
erlebe ich freudvoll und leidvoll die Drucklegung eines von ihm
verfaßten Bandes der Monumenta Germaniae Paedagogica. Dem
Schatzmeister
Geheimrat[6]
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Schuster, haben wir zur 30 jähr. Tätigkeit bei der
"Gesellschaft f. d. Erz. u. Schulgeschichte" gratuliert.
Für
die Vorlesung quäle ich mich z. Z. mit
Klges Klages. Was würde er sagen, wenn er diese
Handschrift sähe? Es ist nun einmal so: über eine äußerste Grenze der
Müdigkeit kann man beim besten Willen und aller Energie nicht mehr
leserlich schreiben. Und wenn das nun jemand auf Charakter hin
prüfte? Ich erschrecke und höre auf. Denn in meinem Gehirn hat es
schon längst aufgehört. Und manchmal hört es auch im Herzen vor
Erschöpfung und Desperation auf. Gute Nacht!