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Dahlem, den 23. November
38.
Mein innig Geliebtes!
Heute beginne ich einmal den Tag damit, Dir zu schreiben. Abends
habe ich oft die Absicht dazu gehabt; aber dann war ich meistens zu
müde. Auch gehen 2 Abende der Woche schon wieder für einen
Luftschutzkursus drauf (im ganzen 10.)
Ich habe noch nicht
gedankt für die Herbstzeitlosen, die in diesem Fall ihrem Namen
wirklich Ehre gemacht haben. Sie haben mir einen lieben Gruß von Dir
gebracht. Neuerdings kam dann der rätselhafte Korkenzieher (mit den
Briefen.) Ausprobiert habe ich ihn noch nicht; ich bin aber sehr
neugierig.
Seit Semesterbeginn ist die Zeit wieder recht
knapp. Auch sind ja immer
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| allerhand Nebenveranstaltungen.
Viele hängen mit
Ostasien zusammen. Am
vorletzten Sonntag war ein Tee im
Kaiserhof
mit zahllosen dtsch. jap. u. ital. Antikominternfreunden. Da sangen
auch Takarasuka-Mädchen. Zu
deren Aufführung haben
Herr
Göbbels u.
Herr Oshima
freundlich eingeladen. Preis der Karte 20M. Dafür haben wir danken
müssen.
Senzoku u.
Sakazaki, die intelligentesten
der hiesigen Japaner, waren ausführlich bei uns. Außerdem ein sehr
sympathischer Chinese. Durch m. Vermittlung ist bei Cotta ein
japanischer Roman "Wellen" erschienen, der psychologisch sehr fein
ist, aber stark westlich angehaucht.
Einmal konnten wir noch
mit
Frankes einen Spaziergang machen;
einmal war Mittwochsgesellschaft bei
Lietzmann. Ein Bild von der Ausfüllung der Zeit
gibt der
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| letzte Sonntag: ½ 11-12
Wenke, der nun in
Erlangen ist; 12-2
Sakazaki, 4 - ½ 7
Hedwig Koch, ½ 8 - ½ 12
Laportes. Dahinter steckt zum Teil das
Bedürfnis, "sich" auszusprechen.
Am Bußtag war ich mit
Petersen bei
Kippenbergs in
Leipzig
zur Arbeitssitzung der Goethegesellschaft. Wenn so die Feiertage
draufgehen, muß natürlich in der Woche um so mehr gearbeitet werden.
Da ist eine Dissertation über
Hegel, die ich beinahe selbst machen muß. Die
verschiedenen Veranstaltungen sind in Gang gebracht. Die "Einleitung
in die Philosophie" mit ca 120-130 bleibt konstant besucht u. scheint
Interesse zu finden. Das Seminar über Hegel quillt beinahe über,
gegen 50, darunter eine ganze Musterkarte der verschiedensten
Ausländer. Selbst für das kleine Seminar über
Fröbel haben sich über 15
gefunden.
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Es hat Tage gegeben, in denen jedes
Weiterarbeiten unmöglich schien. Das Herz stockte beim Anblick von
Straßenbildern und beim Hören von Geschichten. Anderen muß es ähnlich
gegangen sein und noch andere habe ich nicht getroffen. Das Problem
wird immer ernster. Wenn man alt wird, steht man oft vor der Frage
"Kann ich eigentlich noch?"
Du kennst
Hegels Überschrift über s.
Naturphilosophie: Der Geist in s. Entfremdung.
Heute Mittag
kommt
Baron v. Brandenstein aus
Budapest mit
Hans Günther. Der erstere spricht abends in der
Philos. Gesellschaft. Da ich Luftschutzkursus habe, werde ich nicht
hingehen. Ich lasse mich überhaupt in der Öffentlichkeit so selten
wie möglich sehen. Wir haben jetzt eine "Hochschulwoche", deren Zweck
niemand recht einsieht.
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Das Verlangen, sich zu
sprechen, ist naturgemäß groß. Aber erlaube mir, die Lage offen zu
entwickeln. Ich werde in den Weihnachtsferien ungeheuer arbeiten
müssen. Außer dem Laufenden (mindestens 2 großen Dissertationen) ist
da noch die Vorbereitung auf 4 wichtige Vorträge: 2 in
Berlin, einer in
Münster (noch nicht festgelegt) u. vielleicht
Wien. Es würde also nur ganz knappe Zeit für
eine Begegnung herauskommen können. Und die Kasse ist ziemlich leer.
Wir haben dieses Jahr, wo allerdings manches nachzuholen und zu
reparieren war, mit einer mich beunruhigenden Unterbilanz
gewirtschaftet. Nun habe ich im März wieder in
Hamm u.
Wuppertal zu
sprechen. Da dachte ich mir, daß man ein ergiebigeres Zusammensein
daran schließen könnte, vielleicht an der
Bergstraße, wo es schon warm sein kann, obwohl auf
einen so
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| schönen Frühling wie dieses Jahr nicht zu hoffen
ist. Wir hätten mehr davon als von einer kurzen Begegnung etwa in
Erfurt. Und unter 120 M wäre auch diese kaum
zu machen. - So schmerzlich mir dieser Bericht über die Sachlage ist,
nehme ich doch an, daß Dir das treibende Motiv verständlich ist. Wo
ich heute noch zum öffentlichen Reden komme, muß es 1. Ranges
ausfallen. Ich habe noch einen erheblichen unterirdischen Kurswert
(was neulich wieder in der Maison Française zutage trat.) Den suche
ich zu erhalten, solange es die Kräfte gestatten.
x) [li. Rand] x) Eine
neue deutsche Zeitschr. in spanischer Sprache für Südamerika beginnt gleich mit 1 Aufsatz von
mir. Aber diese Kräfte werden von der psychischen Seite her
allmählich aufgezehrt.
Am 30.XI spricht unter m. Vorsitz hier
Hr. v. Uexküll in der
Goethegesellschaft. Am 1.XII. habe ich in der
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| Akademie zu
reden; am 5.XII in der Gesellschaft für Länderkunde.
Am 30.XI
redet hier auch
Krieck. Daß er
alle Prozesse gegen
Hartnacke
verloren hat, habe ich wohl schon mitgeteilt.
Die
Christengemeinschaft (eine anthroposophisch angehauchte Gruppe)
scheint nicht eigentlich schlecht. Sie übt auf manche eine starke
Anziehungskraft. Ich bin nie bei einer Veranstaltung gewesen.
Frl. Gruner gehört dazu und der
gute Münchner Volksschullehrer
Wächter.
Der gute
Vorstand ist wohl kaum noch als urteilsfähig
anzusehen. Deine schwankenden Erlebnisse mit
Adele sind wohl auch ihrem
Alter zuzuschreiben.
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Mein Geschäft in
Zürich scheint nach vielem Mahnen
einigermaßen geglückt zu sein, was gerade im Augenblick sehr wichtig
ist. Aber die Silbersachen bereiten mir Sorgen.
Hedwig Koch hat sich nach
schweren Erwägungen entschlossen, in diesem Jahre keine
Weihnachtsfeier stattfinden zu lassen. - - -
Nun muß ich wohl
oder übel an meine Arbeit gehen. Ich danke Dir innig für Deine lieben
Sendungen und Briefe. Meine Gedanken sind viel bei Dir; und gerade in
den schwersten Tagen unterhalte ich mich mit Dir ganz intensiv. Es
ist schwer, daß es nur auf diese innere Weise geschehen kann.
Ich wünsche Dir gute Gesundheit und Kraft. Innigst
Dein
Eduard
[li. Rand] Keinerlei Nachricht von
Felicitas.