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Heidelberg. 28. November
1941.
Mein geliebtes Herz!
So
gern hatte ich diesmal wieder pünktlich zum Sonntag da sein wollen,
aber es ging nicht. Gestern und heute habe ich vor- und nachmittags
für die Augenklinik gezeichnet. Es war
[über der Zeile] ein Patient das Opfer, eine
Betriebsfürsorgerin der Firma
Lanz. Sie hat ein übles Hornhautgeschwür, und es war ein
schlechtes Arbeiten, denn trotz bester Absicht konnte sie das Auge
weder stillhalten, noch richtig aufmachen. Aber ich habe mir dabei
von ihrem interessanten Beruf erzählen lassen; er hat augenblicklich
noch ganz besondere Schwierigkeiten. Sehr unangenehm und
anspruchsvoll sind die Italiener, und von den andern lieben
Bundesgenossen sind die Tschechen am faulsten.
Aber nun will
ich Dir doch wenigstens zuerst sehr herzlich danken für die W.Fr. und
die hübsche Form des
Goethevortrags. Ich hatte ihn mir für 1,25 M 3x
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| als Oktoberheft vom "Geist der Zeit" kommen lassen. Ist dies
Heft der Goethe-Gesellschaft auch käuflich? -
Es ist schon 9
Uhr und ich bin recht müde, denn "mit mir ist nicht viel los". Es
strengt mich alles immer gleich an. Dabei leiste ich ja sonst
garnichts und es bleibt oft recht dringende Arbeit liegen. Zweimal
war ich abends aus, bei
Frau
Franz (Mathy) und
Tochter
Gretel, der Pianistin, und bei
Frau Buttmi, die eine Kriegergattin dazu eingeladen
hatte. Beides war erfreulich, wenn auch bei einem Teil die Sympathie
mehr im Menschlichen und beim andern mehr in den Überzeugungen
beruhte. Bei letzteren erfährt man immer allerlei Interessantes,
allerdings meist wenig erfreulich. -
Rösel habe ich in der ganzen Zeit nicht gesehen.
Ich konnte daher noch nicht nach dem
Prof. O. J. Hartmann fragen. Daß Du den
Storchenvater zum Nachbar hattest, war ja nett. Ich hatte schon
gehört, daß
Kassel infolge dieser Fabrik
sehr
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| beliebtes Fliegerziel sei. Aber ich habe immer
geglaubt, es hieße
Fieseler-Storch? Wie der Typ eigentlich aussieht, weiß ich allerdings
nicht.
Auch ich schreibe heute an ungewohnter Stelle, in der
Wohnküche, denn im andern Zimmer ist allerlei Malkram. Mein Husten
ist zu 90% vorbei, aber bei Staub und rauhem Wind meldet er sich
immer wieder. Trotzdem muß man eben ausgehen, denn die Dinge kommen
nicht zu einem. Wir hatten schon seit geraumer Zeit ungestörte
Nächte, das ist sehr wohltuend. Aber gestern war Vor-Alarm, schon
bald nachdem ich aus der Klinik kam. Ich möchte nicht gern mal nachts
in der Stadt festgehalten werden, darum bin ich nie mehr in Conzert
oder Vortrag gegangen. Beim
Volk hatte ich mal wieder einen ganz kleinen
Erfolg, aber Schicken lohnt sich noch nicht. An alten Rohrbacher Bauernscheunen hängen die Ketten der gebündelten
Stinkadorerinfamie -
wann wird der
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| denn mal in Aktion treten?
Meine
Lektüre in schlaflosen Nachtstunden waren die Briefe von
Goethe an
Frau von Stein aus
Italien, die die G. Gesellschaft
herausgegeben hat. Sie sind psychologisch ungemein anziehend. - -
Heute kam Anzeige, daß bei
Wolfgang
Hennings ein Sohn
Rudolf
geboren ist. Wie hätte das
Adele erfreut! - Und gestern hatte ich einen sehr
lieben Brief von
Hermann, der
von Dir erfuhr, daß ich Katarrh hatte. Mit Deinem Schreiben und
Deinem treuen Gedenken hast Du ihm sehr wohlgetan. Zu Weihnachten
hoffen sie alle 4 Töchter um sich zu haben;
Dieter wird wahrscheinlich erst
später kommen können. - -
Am Sonntag./ Da fielen
mir neulich die Augen zu und ich wollte am nächsten Morgen weiter
schreiben. Da mußte ich ins Dorf, aufräumen und kochen, so ging der
Vormittag hin. Und nach Tisch mußte ein Korb mit Gemüse gepackt
werden für
Ruges, den
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| ich dann zur
Bahn brachte, nach einem Abstecher zum
Vorstand und kurzem Besuch bei
Heinrichs war es dann Zeit das Abendbrot zu
richten, Geschirr zu spülen nach dem Essen und - nach 10 Uhr - sehr
müde ins Bett zu gehen. So fließen die Tage dahin für nichts.
Für Weihnachten habe ich garkeine Gedanken. Es gibt ja nichts zu
kaufen, was für mich erschwinglich wäre, und Nutzloses zu kaufen
widerstrebt mir. Es war sonst immer eine so
freudige Zeit des Ausdenkens und Vorbereitens.
Heute nacht war
ich wieder eine Stunde wach und fand im Briefe an
Herder die Stelle über den
historischen Sinn, der ihm in
Rom aufgeht:
"so wird man ein Mitgenosse der großen Rathschlüsse des
Schicksals". Das ist es, was man heute auch anstrebt im Anblick
der Weltgeschichte, die vor unsern Augen gemacht wird. Können wir
mit
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| unserm menschlichen fühlenden und moralischen Sinn
überhaupt einen Maßstab gewinnen für das Geschehen, das sich vor uns
abspielt? Machen es Menschen oder macht "es" sich? Wir können doch
nicht anders als ein sittliches Urteil zu gewinnen suchen und alles,
was diesen letzten Sinn verletzt, scheint uns den Keim der
Vernichtung in sich zu tragen. Sehen wir nicht die Zeichen sich
mehren?
Heut ist ein frostig sonniger Tag, noch jetzt um ½ 11
Uhr nur 1° plus am Westfenster. Ich habe mir seit längerem die
Sonntage frei gehalten, und genieße es, still zuhause zu sein. Der
Vorstand versucht immer wieder
sie mir abzuhandeln, aber ich bleibe fest, bin ich doch in der Woche
oft genug bei ihr. Nachher werde ich wieder zur
Mozart-Musik gehen und darum
endlich diesen Brief schließen. Ich wüßte noch manches, was man
besprechen sollte, aber es geht so schlecht schriftlich.
Grüße
Susanne
und sei selbst innig gegrüßt von
Deiner
Käthe.